»Was war in diesen Tabletten, die du uns gegeben hast?« fragte Luckman herausfordernd den lächelnden Barris.
»Zum Teufel, ich hab’ doch selber ein paar eingepfiffen«, sagte Barris, »und du auch. Und wir hatten keine schlechten Trip. Also lag’s nicht am Dope. Und außerdem ist es viel zu schnell losgegangen. Wie hätte es denn am Dope liegen können? Der Magen kann das doch in der kurzen Zeit gar nicht absorbieren, und –«
»Du hast mich vergiftet«, sagte Arctor wild. Sein Blick war fast klar, und auch sein Geist klärte sich langsam wieder. Nur die Angst, die sich jetzt, da der Anfall von Wahnsinn vorüber war, als Reaktion auf die Ereignisse der letzten Minuten eingestellt hatte – diese Angst wollte nicht weichen. Arctor hatte Angst, wenn er an das dachte, was fast passiert wäre, Angst, schreckliche Angst vor dem lächelnden Barris und seiner Scheiß-Schnupftabakdose und vor dem Irrsinn, der aus seinen Erklärungen und seinen Äußerungen und seinem Verhalten und seinen Gewohnheiten und seinen privaten Ritualen und aus seinem klammheimlichen Kommen und Gehen sprach. Und da waren noch der anonyme Telefonanruf, mit dem Robert Arctor bei der Polizei denunziert worden war, und die zusammengefutschelte elektronische Abschirmung, die immerhin gut genug funktioniert hatte, um die Stimme des Anrufers unkenntlich zu machen. Und auch dahinter konnte nur Barris stecken.
Bob Arctor dachte: Der Scheißkerl will mich fertigmachen.
»Ich hab’ noch nie jemanden so schnell ausflippen sehen wie gerade Bob«, sagte Barris, »aber andererseits –«
»Bist du jetzt wieder okay, Bob?« sagte Luckman. »Wir werden die Kotze wegmachen, keine Sorge. Leg dich besser auf den Rücksitz.«
Er und Barris öffneten gemeinsam die Wagentür; Arctor, der immer noch ganz betäubt war, stieg unsicher aus. Luckman wandte sich an Barris. »Du bleibst also dabei, daß du ihm nichts untergejubelt hast?«
Barris wedelte protestierend mit den Händen in der Luft herum.
Item. Was ein Geheimer Rauschgift-Agent am meisten fürchtet, ist nicht etwa, daß er erschossen oder zusammengeschlagen wird, sondern daß man ihm einen Hit irgendeiner psychedelischen Droge unterjubelt, die bewirkt, daß sich für den Rest seines Lebens ein endloser Horrorfilm in seinem Kopf abspult, oder man ihn mit einem Mex-Hit vollpumpt, der zur Hälfte aus Heroin und zur Hälfte aus Substanz T besteht und manchmal auch aus einer Mischung dieser beiden Drogen plus einem Gift wie etwa Strychnin, das ihn beinahe umbringen wird – aber eben nur beinahe, damit er auch ja nicht dem obengenannten Schicksal entgeht: der lebenslänglichen Sucht, dem lebenslänglichen Horrorfilm. Er wird auf eine Stufe der Existenz absinken, auf der sich sein ganzes Denken nur noch um Nadel und Spritzbesteck dreht, oder er wird wieder gegen die Wände einer Gummizelle in einer psychiatrischen Klinik anrennen oder – was am schlimmsten ist – in einer Staatlichen Nervenklinik landen. Er wird Tag und Nacht versuchen, die Blattläuse von sich abzuschütteln oder bis an sein Lebensende darüber nachgrübeln, warum er es nicht länger fertigbringt, einen Fußboden zu bohnern. Und all dies wird man ihm mit voller Absicht antun, weil jemand herausgefunden hat, daß er für die Behörden arbeitet, und ihn dann hinterrücks erwischt hat. Eigentlich auf die naheliegendste und übelste Art, die man sich nur vorstellen konnte: nämlich mit dem Zeug, das diese Leute verkauften und wegen dem der Rauschgift-Agent schließlich hinter ihnen her war.
Und das, dachte Bob Arctor, während er vorsichtig heimfuhr, bedeutet, daß sowohl die Dealer als auch die Rauschgift-Agenten wissen, was die Drogen, die auf den Straßen verkauft werden, dem Menschen antun. Wenigstens ein Punkt, in dem beide Seiten sich einig waren.
Von einer nahe gelegenen Union-Tankstelle war ein Automechaniker zu der Stelle herausgekommen, wo Arctors Wagen stand, hatte den Wagen durchgecheckt und ihn schließlich für dreißig Dollar wieder in Ordnung gebracht. Alles sonst schien okay zu sein; allerdings hatte der Automechaniker ziemlich lange die linke Vorderradaufhängung untersucht.
»Stimmt da was nicht?« hatte Arctor sich erkundigt.
»Möglich, daß Sie Ärger kriegen, wenn Sie scharf um die Ecke biegen«, hatte der Automechaniker gesagt. »Schwimmt der Wagen?«
Der Wagen schwamm nicht; jedenfalls hatte Arctor das bisher nicht bemerkt. Aber der Automechaniker ließ sich nicht dazu herab, genauere Erläuterungen abzugeben; er betastete nur immer wieder die Achsschenkel und den ölgefüllten Stoßdämpfer. Arctor bezahlte die Rechnung, und der Abschleppwagen fuhr weg. Dann stieg er wieder in seinen eigenen Wagen und steuerte ihn nordwärts, zurück nach Orange County. Luckman und Barris saßen jetzt beide hinten.
Während er so dahinfuhr, dachte Arctor über verschiedene andere ironische Parallelen zwischen Rauschgift-Agenten und Dealern nach. Mehrere Rauschgift-Agenten, die er kennengelernt hatte, hatten sich bei ihrer Arbeit als Dealer getarnt und schließlich wirklich Hasch und am Ende manchmal sogar Smack verkauft. Eine hübsche Tarnung, die aber zudem im Laufe der Zeit dem jeweiligen Agenten einen Profit brachte, der weit über seinem offiziellen Gehalt lag – selbst dann noch, wenn man die Summen dazurechnete, die der Agent jedesmal dann kassierte, wenn durch seine Hilfe eine große Lieferung Stoff abgefangen werden konnte. Außerdem erlagen die Agenten nach und nach immer stärker der Versuchung, das Zeug, mit dem sie zur Tarnung handelten, selbst zu konsumieren. Auf diese Weise verstrickten sie sich immer tiefer in die Scene, und bald nahm ihre Existenz als Dealer und Süchtige einen ebenso großen Raum in ihrem Leben ein wie ihre Tätigkeit als Rauschgift-Agenten – was am Schluß dazu führte, daß einige von ihnen ihre dienstlichen Pflichten zu vernachlässigen begannen und sich statt dessen lieber als Full-Time-Dealer etablierten. Andererseits wiederum gab es Dealer, die ihre eigenen Kollegen verpfiffen, weil sie auf diese Weise persönliche Feinde fertigmachen wollten oder hoffen durften, aufgrund ihrer Informantentätigkeit davor geschützt zu sein, in nächster Zeit selber hochgenommen zu werden. Diese Dealer entwickelten sich dann manchmal zu einer Art inoffizieller Geheimer Rauschgift-Agenten. Die Grenzen waren fließend; alles war dunkel und undurchschaubar. Die Drogenscene war ohnehin für alle, die in ihr lebten, eine dunkle Welt. Für Bob Arctor zum Beispiel war sie seit diesem Nachmittag dunkler geworden als je zuvor: Während er und seine beiden Kumpels draußen am San Diego Freeway gerade noch einmal dem Teufel von der Schippe gesprungen waren, hatten die Beamten vom Amt für Drogenmißbrauch ihr Haus – wie er hoffte – sorgfältig verwanzt, und wenn das der Fall war, würde er von jetzt an vor solchen Dingen, wie sie heute geschehen waren, sicher sein. Diese Verwanzungaktion war ein Glücksfall, der letztendlich darüber entscheiden mochte, ob er, Arctor, vergiftet oder erschossen oder süchtig gemacht wurde oder ob es ihm statt dessen gelingen würde, seinen Feind festzunageln – seinen Feind, dessen Identität er nicht kannte, der ihn aber längst im Fadenkreuz hatte und ihn heute sogar beinahe schon erwischt hätte. Wenn erst einmal die Holo-Kameras an den vorgesehenen Stellen eingebaut sind, dachte Arctor, dann werden kaum noch weitere Sabotageakte oder Angriffe auf mich möglich sein. Zumindest aber wird dadurch der Erfolg solcher Aktionen in Frage gestellt.
Das war so ungefähr der einzige Gedanke, der ihm etwas Beruhigung verschaffte. Jemand, der gejagt wird, überlegte er, als er den Wagen vorsichtig durch den dichten Spätnachmittagsverkehr lenkte, flieht manchmal vielleicht schon, wenn ihm noch niemand unmittelbar auf den Fersen ist – er hatte einmal so etwas gehört, und vielleicht traf das ja wirklich zu. Was aber mit Sicherheit zutraf, war, daß jemand, der gejagt wurde, rasch eine Reihe von Vorsichtsmaßnahmen ergriff und floh, als sei der Teufel höchstpersönlich hinter ihm her, wenn ihm wirklich jemand auf den Fersen war – eine reale Person, die in solchen Dingen erfahren war und zudem aus dem Verborgenen heraus operierte. Und wenn dieser Jäger sehr dicht hinter ihm war. So dicht, dachte Arctor, wie der Rücksitz dieses Wagens. Und wenn der Jäger seine seltsame kleine Kugelspritze vom Kaliber 22, hergestellt in Deutschland, mit seinem ebenso seltsamen und lächerlichen Pseudo-Schalldämpfer darauf dabei hat und Luckman wie gewöhnlich eingeschlafen ist, dann kann er mir ein Hohlmantelgeschoß durch die Rückseite meines Schädels jagen, und ich werde so tot sein wie Bobby Kennedy, der an einer Kugel vom gleichen Kaliber gestorben ist. So ein kleines Kaliber, und doch so tödlich …
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