Der Waggon war spartanisch ausgestattet: es gab einige Reihen harter Holzbänke — und das war schon alles —, ansonsten weder Polsterung noch irgendwelchen Schmuck. Der Anstrich war ein uniformes Dunkelbraun ohne jeden ästhetischen Anspruch. Die Fenster waren versiegelt, und sie hatten Rollos, mit denen sie verdunkelt werden konnten.
Wir suchten uns Plätze, auf denen wir uns dann ziemlich steif gegenübersaßen. An diesem sonnigen Tag war die Hitze im Waggon unerträglich.
Als Oldfield die Tür geschlossen hatte, setzte der Zug sich schleppend in Bewegung.
»Offensichtlich sind wir die einzigen Passagiere«, murmelte Moses.
»Nun, es ist ja auch ein seltsamer Zug«, stellte ich fest. »Eher spärlicher Komfort, Filby — eh?«
»Dies ist auch keine Zeit für Luxus, mein Freund.«
Wir fuhren einige Meilen durch eine desolate Landschaft, wie wir sie schon um Richmond gesehen hatten. Ich hatte den Eindruck, daß das Land überwiegend in Anbauflächen verwandelt worden und fast menschenleer war, obwohl ich zuweilen ein paar Leute sah, die ein Feld bestellten: es hätte ein Stilleben aus dem fünfzehnten Jahrhundert sein können und keine Szene aus dem zwanzigsten — abgesehen von den zerstörten und ausgebombten Häusern, welche die Landschaft verschandelten, wobei an manchen Stellen die imponierenden Silhouetten von Luftschutzbunkern auftauchten — große, halb in den Boden eingelassene Betonpanzer. Bewaffnete Soldaten gingen in der Umgebung dieser Bunker Streife und beäugten die Welt käferartig durch ihre Gasmasken, als ob sie eventuelle Flüchtlinge von einer Annäherung abhalten wollten.
In der Nähe von Mortlake sah ich am Straßenrand vier Leute an Telegraphenmasten baumeln. Ihre Körper waren schlaff und verkohlt, und offensichtlich waren sie schon von Vögeln angenagt. Ich erzählte Filby von diesem schrecklichen Anblick — er und die Soldaten hatten von der Gegenwart der Leichen nicht einmal Notiz genommen — und er wandte seinen wäßrigen Blick in die angegebene Richtung, wobei er etwas murmelte wie ›sicher haben sie Rüben oder so was gestohlen‹. Ich wurde belehrt, daß ein solcher Anblick alltäglich war, in dieser Version des Jahres 1938.
Plötzlich fuhr der Zug über eine Gefällstrecke in einen Tunnel ein. Zwei schwächliche Glühlampen waren die Waggonbeleuchtung, und wir saßen in ihrem gelben Glühen und starrten uns an.
»Ist das eine Untergrundbahn?« fragte ich Filby. »Ich könnte mir denken, daß wir uns auf einer Erweiterung der Metropolitan Line befinden.«
Filby wirkte verwirrt. »Oh, ich nehme doch an, daß die Linie eine Nummer oder eine andere…«
Moses begann an seiner Maske herumzufummeln. »Wenigstens könnten wir jetzt mal diese schrecklichen Dinger ablegen.«
Bond legte eine Hand auf seinen Arm. »Nein«, widersprach sie. »Es ist nicht sicher.«
Filby nickte zustimmend. »Das Gas kommt überall hin.« Ich glaubte, daß er schauderte, aber in seiner schmuddeligen, zu weiten Montur konnte man das nicht genau sagen. »Wenn man es einmal selbst erlebt hat…«
Dann skizzierte er in kurzen, lebendigen Worten ein Bild, das ich nie vergessen werde: von einem Gas, dessen Wirkung er in der Anfangsphase des Krieges in Knightsbridge erlebt hatte, als die Bomben noch von Hand aus Freiballons abgeworfen wurden und die Bevölkerung noch nicht an den Luftkrieg gewöhnt war.
Der Angriff begann mit einem Alptraum aus Alarmrufen, Sirenen, den wirkungslosen Pfiffen von Spähern auf Fahrrädern — und dann brach es über sie herein — und jeder Hauch einer Organisation war wie weggeblasen. Unter Preisgabe jeglichen Stolzes und aller Würde gab es nur noch Schwärme planlos hin- und herwuselnder Menschen (laut Filby). Sie kämpften und schlugen um sich wie Tiere, kletterten über Tote und Sterbende gleichermaßen, bis sie selbst fielen und ihrerseits niedergetrampelt wurden…
Und nun deutete Filby an, daß solch gespenstische Szenen in dieser Welt des Ewigen Krieges zum Alltagsbild gehörten!
»Es wundert mich überhaupt, daß die Moral nicht schon längst zusammengebrochen ist, Filby.«
»Die Leute geben offensichtlich nicht so schnell auf. Sie halten was aus. Natürlich hat es auch schon kritische Momente gegeben«, gab er zu. »Ich erinnere mich zum Beispiel an den August 1918… Damals hatte es den Anschein, als ob die westlichen Alliierten den verdammten Deutschen schließlich aufs Dach steigen und den Krieg beenden würden. Aber dann kam sie, die Kaiserschlacht, Ludendorffs großer Sieg, in dem er einen Keil zwischen die britischen und französischen Linien trieb… Nach vier Jahren Stellungskrieg war das ein großer Durchbruch für sie. Da half uns auch nicht mehr die Bombardierung von Paris, bei der ein Großteil des französischen Generalstabs umkam…«
Captain Bond nickte; ihr Haarschnitt war extrem kurz, wie der eines Mannes. »Der schnelle Sieg im Westen ermöglichte es den Deutschen, alle Kräfte gegen die Russen im Osten zu werfen. Dann, 1925…«
»1925«, führte Filby weiter aus, »hatten die Deutschen ihren Traum von Mitteleuropa wahrgemacht.«
Er und Bond setzten mich ins Bild. Mitteleuropa: die europäische Achse, ein gemeinsamer Markt, der sich von der Atlantikküste bis zum Ural erstreckte. 1925 reichte der Einflußbereich des Kaisers vom Atlantik bis zum Baltikum, über Rußland-Polen bis zur Krim. Frankreich war zu einem Rumpfstaat reduziert worden und hatte dadurch die meisten seiner Ressourcen verloren. Luxemburg war mit Gewalt eingegliedert worden. Belgien und Holland wurden dazu gezwungen, den Deutschen ihre Häfen zur Verfügung zu stellen. Die Montanindustrie Frankreichs, Belgiens und Rumäniens wurde in den Dienst der weiteren Expansion des Reiches nach Osten gestellt, die Slawen wurden zurückgedrängt, und Millionen Nichtrussen wurden von Moskaus Vorherrschaft ›befreit‹…
Und so fort, in allen unwesentlichen Details.
»Dann, im Jahre 1926«, sagte Bond, »eröffneten die Alliierten — Großbritannien und sein Empire sowie Amerika — erneut eine Front im Westen. Es ist die Invasion von Europa: die größte see- und luftgestützte Verschiebung von Truppen und Material, die jemals stattgefunden hat.
Anfangs lief alles nach Plan. Die Bevölkerung Frankreichs und Belgiens erhob sich, und die Deutschen wurden zurückgeworfen…«
»Aber nicht sehr weit«, präzisierte Filby. »Bald war es wieder wie im Jahr 1915, wo sich zwei riesige Armeen im Schlamm Frankreichs und Belgiens gegenüberlagen.«
Damit hatte die Belagerung begonnen. Aber jetzt waren die verfügbaren Ressourcen der Kriegsgegner um so vieles größer: das Herzblut des Britischen Empire und des Amerikanischen Kontinents auf der einen Seite, das von Mitteleuropa auf der anderen, strömte in dieses Faß ohne Boden.
Und dann entbrannte der Krieg gegen die Zivilbevölkerung in voller Schärfe: die Lufttorpedos, die Gasangriffe…
»›Die Kriege der Völker werden die Kriege der Könige an Schrecken übertreffen‹«, zitierte Moses düster.
»Aber die Menschen, Filby — was wird aus den Menschen?«
Seine Stimme, durch die Maske gedämpft, klang auf einmal vertraut, wenn auch entfernt. »Es hat Demonstrationen gegeben — meines Wissens vor allem in den späten Zwanzigern. Aber dann haben sie den Erlaß 1305 verabschiedet, der Streiks, Aussperrungen und alle vergleichbaren Aktionen für illegal erklärte. Und das war es dann! Seitdem… — nun, ich vermute, daß wir uns wohl so durchgeschlagen haben.«
Ich registrierte, daß die Tunnelwände vom Fenster zurückwichen, als ob wir das Ende des Tunnels erreicht hätten. Wir schienen in eine große unterirdische Kammer einzufahren.
Bond und Oldfield öffneten mit allen Anzeichen der Erleichterung ihre Masken; Filby löste ebenfalls die Riemen, und als sein malträtierter alter Kopf aus seinem feuchten Gefängnis befreit wurde, konnte ich weiße Vertiefungen am Kinn erkennen, wo die Dichtung der Maske in die Haut eingeschnitten hatte. » So ist es besser«, meinte er.
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