Das hervorstechendste Merkmal unseres Nachthimmels war jedoch weder der Mond noch das Fehlen der Sterne: es war die große, gazeartige Scheibe mit dem Durchmesser von einem Dutzend Monden, die ich bereits bei unserer Ankunft registriert hatte. Diese Struktur war außerordentlich komplex und belebt. Man stelle sich ein Spinnennetz vor, vielleicht hintergrundbeleuchtet, auf dessen Oberfläche glitzernde Tautropfen umherkullerten; dazu hundert winzige Spinnen, die langsam, aber wahrnehmbar über diese Oberfläche krabbelten, und die offensichtlich damit beschäftigt waren, die Struktur zu verstärken und zu erweitern — und dann lasse man den Blick über viele Meilen interplanetarischen Raumes schweifen! — und man kann ermessen, was ich zu sehen bekam.
In den frühen Morgenstunden konnte ich die Spinnennetz-Scheibe am klarsten erkennen — vielleicht gegen drei Uhr morgens — und dann konnte ich geisterhafte Lichtfäden ausmachen — fragil und dünn —, die sich von der anderen Erdhälfte durch die Atmosphäre zu der Scheibe hochzogen.
Ich erörterte diese Beobachtungen mit Nebogipfel. »Das ist wirklich außergewöhnlich… es ist, als ob diese Strahlen ein Netzwerk aus Licht bildeten, das die Scheibe an der Erde verankert, so daß die ganze Sache wie ein Segel wirkt, das die Erde in einem gespenstischen Wind durch den Weltraum zieht!«
»Deine Rede ist zwar sehr bildlich«, kommentierte er, »aber dennoch veranschaulicht sie dieses Unternehmen ziemlich gut.«
»Was meinst du damit?«
»Daß es ein Segel ist«, bekräftigte er. »Aber es zieht die Erde nicht: vielmehr dient die Erde als Grundlage für den Wind, der das Segel bläht.«
Nebogipfel beschrieb diesen neuen Typ eines Raumschiffs. Es wurde im Weltraum gebaut, denn es war viel zu zerbrechlich, um von der Erde ins All gebracht werden zu können. Ihr Segel bestand im Prinzip aus einem Spiegel; und der ›Wind‹, der das Segel füllte, war Licht: Lichtpartikel, die auf eine reflektierende Fläche treffen, üben eine Schubkraft aus, genauso, wie sich aus Luftmolekülen eine Brise bildet.
»Der ›Wind‹ kommt von Strahlen kohärenten Lichts, das von erdgestützten Projektoren mit der Größe ganzer Städte erzeugt wird«, erläuterte er. »Es sind diese Strahlen, die du als ›Fäden‹ zwischen Planet und Segel beobachtet hast. Der Druck des Lichts ist zwar relativ gering, aber konstant, und hat einen sehr hohen Wirkungsgrad — insbesondere dann, wenn man sich der Lichtgeschwindigkeit nähert.«
Er meinte, daß die Konstrukteure nicht als Einzelindividuen in solchen Schiffen reisen würden, wie es Passagiere der großen Schiffe zu meiner Zeit getan hatten. Vielmehr würden sich die Konstrukteure selbst zerlegen, ihre Komponenten ausschwärmen und sich an das Schiff anlagern lassen. Am Zielort würden sie sich dann wieder zusammensetzen, und zwar in einer Form, die den Bedingungen auf der vorgefundenen Welt am ehesten entsprach.
»Aber, was meinst du, wohin mag das Schiff wohl unterwegs sein? Zum Mond, oder einem der Planeten — oder…«
In seiner nüchternen, undramatischen Morlock-Art entgegnete Nebogipfel: »Nein. Zu den Sternen.«
Der Multiplizitäten-Generator
Im Laufe der Zeit interessierte sich Nebogipfel zusehends für den Billardtisch. Er verbrachte viel Zeit damit, die Kugel über den Tisch rollen zu lassen. Dabei trat in der Mitte des Tisches wiederholt dieses seltsame Rasseln auf, das mir zuvor schon aufgefallen war, und mehrmals glaubte ich zu sehen, daß Billardkugeln — weitere Kopien unseres Originals — aus dem Nichts erschienen und mit der Bahn unserer Kugel interferierten. Manchmal erschien die Kugel nach diesen Kollisionen wieder und lief auf der Bahn weiter, die sie auch ohne den Zusammenprall verfolgt hätte; manchmal jedoch wurde sie auch auf einen anderen Pfad abgelenkt, und ein paarmal — beobachteten wir die Art von Zwischenfall, den ich schon früher beschrieben hatte, als eine stationäre Kugel von ihrer Position verdrängt wurde, ganz ohne mein oder Nebogipfels Zutun.
Das alles machte das Spiel sehr unterhaltsam — und bei der Sache ging es eindeutig nicht mit rechten Dingen zu, aber beim besten Willen konnte ich nichts Verdächtiges erkennen, trotz des trübe glimmenden Plattnerits in den Taschen. Meine einzige Erkenntnis bestand darin, daß die Wahrscheinlichkeit einer Ablenkung der Kugel von ihrem Ausgangskurs um so größer wurde, je langsamer sie rollte.
Der Morlock indessen engagierte sich immer mehr in dieser Angelegenheit. Er blickte wieder in das Innere des geduldigen Konstrukteurs, tauchte erneut in das Informations-Meer ein und erschien mit einem neuen Wissensfragment, das er ergattert hatte — er nuschelte in seinem unverständlichen, fließenden Dialekt etwas vor sich hin — und dann eilte er schnurstracks zum Billardtisch, um seine neuen Erkenntnisse in die Praxis umzusetzen.
Schließlich schien er bereit, mir seine Hypothesen mitzuteilen; zu diesem Zweck zitierte er mich von meinem Dampfbad weg. Ich trocknete mich mit dem Hemd ab und rannte ihm in das Billardzimmer nach; seine kleinen, schmalen Füße patschten auf den harten Boden, als er im Laufschritt zum Tisch eilte. So aufgeregt hatte ich ihn noch selten gesehen.
»Ich glaube, ich weiß jetzt, was es mit diesem Tisch auf sich hat«, meldete er atemlos.
»Ja?«
»Er ist… — wie soll ich es ausdrücken? — er ist nur ein Vorführgerät, wenig mehr als ein Spielzeug — aber er ist ein Multiplizitäten-Generator. Begreifst du?«
Ich hielt die Hände hoch. »Ich befürchte, daß ich überhaupt nichts begreife.«
»Das Konzept der Multiplen Historien ist dir doch mittlerweile ein Begriff…«
»Das sollte es; es ist ja die Grundlage deiner Erklärung der divergenten Historien, die wir bereits besucht haben.«
In jedem Moment, bei jedem Ereignis (faßte ich zusammen), verzweigt sich die Geschichte. Der Schatten eines Schmetterlings kann hierhin oder dorthin fallen; die Kugel eines Attentäters kann einen Arm streifen und weiterfliegen, ohne Schaden anzurichten, oder mit tödlicher Wirkung das Herz eines Königs durchschlagen… Jedem potentiellen Ausgang eines Ereignisses entspricht eine neue Version der Geschichte. »Und alle diese Historien sind real«, sagte ich, »und — wenn ich es richtig verstehe — sie liegen nebeneinander, in einer gewissen vierten Dimension, wie die Seiten eines Buches.«
»Sehr richtig. Und jetzt begreifst du auch, daß der Einsatz einer Zeitmaschine — einschließlich deines ersten Prototyps — weitere Verzweigungen verursacht und damit neue Historien generiert… von denen manche ohne die Intervention der Maschine nicht möglich gewesen wären — wie diese hier.« Er gestikulierte mit den Händen. »Ohne deine Maschine, die diese ganze Kausalkette ausgelöst hat, hätten die Menschen nie zurück ins Paläozän gelangen können, und wir würden jetzt nicht mit den Folgen einer fünfzig Millionen Jahre dauernden ›intelligenten‹ Modifikation des Kosmos konfrontiert werden.«
»Das ist mir schon klar«, erwiderte ich mit zunehmender Ungeduld. »Aber was hat das nun mit diesem Tisch zu tun?«
»Schau.« Er ließ eine einzelne Kugel über den Tisch rollen. »Das ist unsere Kugel. Wir müssen uns viele Historien vorstellen — einen ganzen Stapel —, durch die sich die Kugel permanent bewegt. Die wahrscheinlichste Historie ist natürlich die mit der klassischen Ballistik — also eine in gerader Richtung über den Tisch rollende Kugel. Daneben existieren jedoch auch noch andere Historien — benachbart, aber grundverschieden. Es ist sogar möglich, wenn auch sehr unwahrscheinlich, daß sich in einer dieser Historien die Wärmeenergie der Moleküle der Kugel aufschaukelt, so daß sie in die Luft springt und dir ins Auge fliegt.«
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