Nebogipfel rieb sich das Gesicht. Er ging zu dem Konstrukteur, blickte in sein Okular und wurde nach einigen Minuten mit der Extrusion einer Käseplatte aus dem glitzernden Leib des Konstrukteurs belohnt, die ich schon so oft in Nebogipfels eigener Zeit gesehen hatte. Mit Abscheu beobachtete ich, wie Nebogipfel die Platte ergriff und in dieses wie schon mal gegessen aussehende Zeug hineinbiß. Es war eigentlich auch nicht schlimmer als die Extrusion von Materialien aus dem Boden der Morlock-Sphäre, aber der zwischen Leben und Maschine changierende Konstrukteur hatte etwas an sich, das mich abstieß. Ich mußte mich zwingen, mich weiterer Spekulationen bezüglich der Herkunft meines eigenen Essens und Wassers zu enthalten!
»Wir können diese Konstrukteure nicht als vereinigt bezeichnen«, stellte Nebogipfel richtig. »Sie sind vernetzt. Aber sie verfolgen kein gemeinsames Ziel — wie es zum Beispiel die verschiedenen Komponenten deiner Person tun.«
»Aber warum nicht? Das wäre doch höchst vernünftig. Mit perfekter, kontinuierlicher Kommunikation gäbe es keine Mißverständnisse mehr — keine Konflikte…«
»Aber dem ist nicht so. Die Gesamtheit des mentalen Universums der Konstrukteure ist zu groß.« Er verwies wieder auf das Informations-Meer und beschrieb, wie die Strukturen des Denkens und Spekulierens — komplex, evolutionär, vergänglich — kamen und gingen, erzeugt aus den Rohstoffen dieses mentalen Ozeans. »Diese Strukturen verhalten sich analog zu den wissenschaftlichen Theorien deiner Zeit — ständig bedroht von neuen Entdeckungen und den Erkenntnissen neuer Denker. Die Welt der Erkenntnis steht nämlich niemals still…
Und erinnere dich nur an deinen Freund Kurt Gödel, der uns lehrte, daß kein Wissensgebiet jemals kodifiziert und abgeschlossen werden kann.
Das Informations-Meer ist unruhig. Die aus ihm entspringenden Hypothesen und Intentionen sind komplex und vielschichtig; es besteht fast in keinerlei Hinsicht völliger Konsens unter den Konstrukteuren. Es ist wie eine langwierige Debatte mit immer neuen Aspekten; und innerhalb dieser Debatte können sich Fraktionen bilden: Gruppen von Quasi-Individuen, die sich um ein Paradigma scharen. Man könnte sagen, daß die Konstrukteure sich einig sind in dem Bestreben, die Erkenntnis ihrer Spezies voranzutreiben, nicht jedoch hinsichtlich der Art und Weise, wie das bewerkstelligt werden soll. Man könnte es im Grunde auch so ausdrücken: je fortgeschrittener das Denken, desto mehr unterschiedliche Strömungen scheinen sich zu entwickeln, denn je komplexer die Welt wird…
Und solcherart entwickelt sich die Rasse weiter.« Ich erinnerte mich daran, was Barnes Wallis mir von der neuen Redeordnung im Parlament erzählt hatte, im Jahre 1938, als Opposition bereits einen Straftatbestand erfüllte — die Abzweigung der Energien von der einen, selbstverständlich korrekten Interpretation der Dinge! — Wenn aber das, was Nebogipfel sagte, stimmte, dann konnte es auf keine Frage eine allgemeingültige Antwort geben: wie diese Konstrukteure mittlerweile gelernt hatten, waren vielschichtige Perspektiven unabdingbar in dem Universum, in dem wir lebten!
Nebogipfel mümmelte hingebungsvoll an seinem Käsemampf; als er fertig war, schob er den Teller wieder in die Substanz des Konstrukteurs, wo sie absorbiert wurde — es mußte etwas Tröstliches für ihn haben, dachte ich, denn dieser Vorgang hatte größte Ähnlichkeit mit dem Extruder-Boden seiner heimatlichen Sphäre.
Ich verbrachte viele Stunden allein oder mit Nebogipfel an den Fenstern unseres Apartments.
Ich sah keine Anzeichen tierischen oder pflanzlichen Lebens auf der Oberfläche der Weißen Erde. Soweit ich es beurteilen konnte, waren wir in unserer kleinen Blase aus Licht und Wärme oben in diesem riesigen Turm isoliert; und in der ganzen Zeit, die wir uns hier befanden, verließen wir diese Blase nie.
Nachts war der Himmel vor unseren Fenstern immer klar, wobei nur eine kleine, frostige (Zirruswolke hoch oben in der sauerstofflosen, tödlichen Atmosphäre stand. Aber trotz dieser Klarheit — ich konnte es immer noch nicht begreifen — gab es keine Sterne — bzw. nur sehr wenige, eine Handvoll, verglichen mit der Vielfalt, die einst die Erde angestrahlt hatte. Ich hatte diese Beobachtung schon bei unserer Ankunft gemacht, mußte sie aber der Kälte oder meiner Desorientierung zugeschrieben haben. Nun, wo ich mich im Warmen und bei klarem Verstand befand, die Bestätigung zu erhalten, war beunruhigend — vielleicht das seltsamste Einzelphänomen in dieser neuen Welt.
Der Mond — dieser geduldige Satellit — drehte sich noch immer um die Erde und durchlief seine Phasen mit unbeirrbarer Regelmäßigkeit; aber seine uralte Oberfläche war auch jetzt noch grün gefleckt. Das Mondlicht schien nicht mehr in kühlem Silber, sondern tauchte die Landschaft der Erde in ein sanftes grünes Glühen — der Planet gab der Erde einen Hauch des Grüns zurück, dessen sie sich einst erfreut hatte, und die nun unter dem ewigen Eis begraben war.
Erneut sah ich dieses Glühen, das von einem eingefangenen Stern zu stammen schien und stetig von der östlichen Flanke des Mondes auf uns herableuchtete. Zuerst hatte ich gemutmaßt, daß sich die Sonne in einem Mondsee spiegeln würde, aber das Licht war so konstant, daß ich schließlich einen künstlichen Ursprung voraussetzte. Ich stellte mir einen Spiegel vor — ein künstliches Konstrukt — das vielleicht auf einem lunaren Berggipfel stand und so ausgerichtet war, daß seine Reflexion immer die Erde illuminierte. Was den Zweck einer solchen Anlage betraf, spekulierte ich, daß sie möglicherweise aus einer Zeit datierte, in welcher der Abbau der Atmosphäre eine Evakuierung des Mutterplaneten noch nicht erforderlich gemacht hatte, aber vielleicht doch schon so weit fortgeschritten war, daß er den Zusammenbruch aller überlebenden Kulturen herbeigeführt hatte.
Ich stellte mir die Mond-Menschen vor: Seleniten, wie wir sie nennen könnten, Menschenabkömmlinge. Die Seleniten mußten das tödliche Wüten der großen Feuer beobachtet haben, die überall auf der Kruste der erstickenden Erde ausbrachen. Die Seleniten hatten sicher gewußt, daß noch Menschen auf der Erde lebten — aber es waren Menschen, die ihre zivilisatorischen Standards verloren hatten, Menschen, die wie Wilde, ja sogar wie Tiere lebten und in einen prärationalen Zustand zurückfielen. Vielleicht wurden auch sie vom Kollaps der Erde betroffen — denn es war vorstellbar, daß die Seleniten-Gesellschaft nicht ohne die Unterstützung von Mutter Erde überleben konnte.
Die Seleniten mochten zwar das Schicksal ihrer Verwandten auf der Erde beklagen, aber sie konnten sie nicht erreichen… und so versuchten sie, ein Signal zu senden. Sie errichteten ihren großen Spiegel — er mußte einen Durchmesser von einer halben Meile oder mehr haben, um über interplanetarische Distanzen gesehen zu werden.
Den Seleniten mochte vielleicht sogar noch etwas Ehrgeizigeres vorgeschwebt haben als eine schlichte Inspiration am Himmel. So hätten sie z. B. — indem sie durch die Verwendung eines Morse-Äquivalentes den Spiegel zum Flackern brachten — Anleitungen zum Getreideanbau oder Maschinenbau übermitteln können — die verlorenen Geheimnisse der Dampfmaschine vielleicht — auf jeden Fall etwas Sinnvolleres als nur gute Wünsche.
Aber letztlich war es aussichtslos. Schließlich krachte die Faust der Vergletscherung auf die Erde nieder. Und als die Menschen von der Erde verschwanden, stellte auch der große lunare Spiegel seine Sendetätigkeit ein.
Vor dem Hintergrund dieser Spekulationen schaute ich nun aus den Fenstern meines Turmes; ich konnte sie natürlich nicht auf ihre Richtigkeit überprüfen — denn Nebogipfel war nicht in der Lage, diese neue Menschheitsgeschichte bis ins Detail nachzuvollziehen — aber auf jeden Fall wurde das Schimmern dieses isolierten Spiegels auf dem Mond für mich zum bezeichnendsten Symbol des Untergangs der Menschheit.
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