Das Wichtigste war Essie. Ich saß jedes Mal, wenn sie aus dem Operationssaal kam – in sechs Wochen vierzehnmal – an ihrem Bett, und jedes Mal klang ihre Stimme ein wenig schwächer, sah sie ein wenig eingefallener aus. Die ganze Zeit waren alle hinter mir her, die Klage gegen mich in Brasilia stand schlecht, von der Nahrungsfabrik strömten beunruhigende Meldungen herein, der Brand in den Nahrungsgruben wütete weiter. Aber Essie hatte absoluten Vorrang. Harriet kannte ihre Anweisungen. Wo ich auch sein mochte, ob ich schlief oder wach war, wenn Essie nach mir verlangte, wurde sie sofort durchgestellt.
»O ja, Mrs. Broadhead, Robin wird sofort bei Ihnen sein. Nein, Sie stören ihn nicht. Er ist gerade von einem Nickerchen aufgewacht.« Oder er hat eine Pause zwischen Terminen oder kommt vom Tappan-See eben den Rasen herauf oder irgendetwas, das Essie nicht daran hinderte, auf der Stelle mit mir zu sprechen. Dann betrat ich den abgedunkelten Raum, braungebrannt und grinsend und erholt, und erklärte ihr, wie gut sie aussehe. Man hatte mein Billardzimmer in einen Operationssaal verwandelt und die Bibliothek daneben ausgeräumt, um ein Schlafzimmer für sie daraus zu machen. Dort hatte sie es sehr bequem. Sagte sie jedenfalls.
Und tatsächlich sah sie gar nicht schlecht aus. Man hatte die Knochenspäne eingesetzt, ganze Knochen eingepflanzt und zwei oder drei Kilogramm Ersatzteile und Gewebe eingebaut. Man hatte sogar die Haut wieder angebracht oder, wie ich vermutete, neue Haut von einer anderen Person eingepflanzt. Ihr Gesicht sah gut aus, abgesehen von einem leichten Verband an einer Seite, und darüber kämmte sie ihr blondes Haar.
»Na, Supermann«, pflegte sie mich zu begrüßen. »Wie fühlst du dich denn so?«
»Sehr gut, sehr gut. Ein bisschen lüstern«, pflegte ich zu erwidern, während ich meine Nase an ihrem Hals rieb. »Und du?«
»Sehr gut.« So beruhigten wir einander, und wir logen gar nicht, wohlgemerkt. Es ging ihr jeden Tag besser, erklärten mir die Ärzte. Und mir … ich wusste nicht, wie es mir ging. Aber ich erwartete jeden Morgen ganz begierig. Kam mit fünf Stunden Schlaf in der Nacht aus. Wurde nie müde. Hatte mich in meinem ganzen Leben nie besser gefühlt.
Aber trotzdem wurde sie jedes Mal hagerer. Die Ärzte erklärten mir, was ich zu tun hatte. Ich gab es an Harriet weiter, und Harriet programmierte den Koch neu. Wir hörten also auf mit Salaten und halbgar gegrillten Steaks. Kein Frühstück mehr mit Kaffee und Säften, sondern Tworosnjikji , Pfannkuchen mit saurer Sahne und große Tassen dampfender Schokolade. Zum Mittagessen kaukasischer Lammpilaw. Abends Wildgeflügel in Sahnesauce.
»Du verwöhnst mich, lieber Robin«, beklagte Essie sich, und ich sagte: »Ich mäste dich nur ein bisschen. Ich kann magere Frauen nicht ausstehen.«
»Ja, schon recht. Aber man kann auch zu einseitig sein. Gibt es nichts, was dick macht und nicht aus der russischen Küche stammt?«
»Warte auf die Nachspeise«, sagte ich grinsend. »Erdbeerkuchen.« Mit Schlagsahne, versteht sich. Die Krankenschwester hatte mir geraten, aus psychologischen Gründen mit kleinen Portionen auf großen Tellern anzufangen. Essie aß beharrlich alles auf, und als wir die Portionen mit der Zeit steigerten, aß sie jeden Tag mehr. Sie hörte jedoch nicht auf, Gewicht zu verlieren. Aber sie verlangsamte das beträchtlich, und nach sechs Wochen meinten die Ärzte vorsichtig, ihr Zustand könnte als stabil betrachtet werden. Beinahe.
Als ich ihr die gute Nachricht brachte, stand sie sogar – angeschlossen an die Apparaturen unter ihrem Bett, aber in der Lage, im Zimmer herumzugehen.
»Wird auch Zeit«, sagte sie und küsste mich. »Also. Du bist zu viel zu Hause gewesen.«
»Es ist ein Vergnügen«, erwiderte ich.
»Es ist Güte«, meinte sie nüchtern. »Es ist sehr schön für mich, dass du immer hier gewesen bist. Aber jetzt, da ich fast gesund bin, muss es Dinge geben, um die du dich zu kümmern hast.«
»Eigentlich nicht. Ich komme mit den Fernmeldeanlagen in der Zentrale gut zurecht. Es wäre natürlich schön, wenn wir beide irgendwo hinfahren könnten. Ich glaube nicht, dass du Brasilia jemals gesehen hast. Vielleicht können wir in ein paar Wochen …«
»Nein. Nicht in ein paar Wochen. Nicht mit mir. Wenn du hinfahren musst, bitte, tu es, Robin.«
Ich zögerte.
»Tja, Morton meint, es wäre nützlich.«
Sie nickte lebhaft und rief: »Harriet? Mr. Broadhead fliegt morgen früh nach Brasilia. Reservieren Sie Plätze und so weiter.«
»Gewiss, Mrs. Broadhead«, sagte Harriet aus der Konsole am Kopfteil von Essies Bett. Ihr Bild schrumpfte so schnell zusammen, wie es aufgetaucht war, und Essie legte die Arme um mich.
»Ich sorge dafür, dass du in Brasilia ständige Verbindung hast«, versprach sie, »und Harriet erhält Anweisung, dich fortwährend über meinen Zustand zu unterrichten. Ich schwöre dir, Robin, wenn ich dich brauche, erfährst du es sofort.«
Ich raunte ihr ins Ohr: »Na ja …«
Sie sagte an meiner Schulter: »Nichts ›na ja‹. Abgemacht, Robin? Ich liebe dich sehr.«
Albert erklärt mir, dass jede Funknachricht, die ich absende, in Wirklichkeit eine lange, dünne Kette von Photonen ist, wie ein in den Raum geschleuderter Speer. Eine Kaskaden-Übermittlung von dreißig Sekunden ist eine neun Millionen Kilometer lange Säule, in der jedes Photon mit Lichtgeschwindigkeit dahinsaust, den ganzen Weg genau im Gleichschritt. Aber selbst dieser lange, schnelle, dünne Speer braucht eine Ewigkeit, um 5 000 AE zurückzulegen. Das Fieber, das meine Frau so schwer verletzte, hatte fünfundzwanzig Tage gebraucht, um hier anzukommen. Der Befehl, mit der Liege nicht mehr herumzuspielen, war nur einen Bruchteil des Weges vorangekommen, bevor er an dem zweiten Fieber vorbeikam, an demjenigen, das die kleine Janine uns eingebrockt hatte. Ein leichtes, gewiss. Unsere Nachricht mit dem Glückwunsch zur Ankunft der Herter-Halls in der Nahrungsfabrik irgendwo hinter der Plutobahn war an der vorbeigekommen, die uns mitteilte, dass die meisten von ihnen einen Ausflug zum Hitschi-Himmel unternommen hatten. Inzwischen war der Glückwunsch dort, und unsere Anweisungen darüber, was sie zu tun hätten, befanden sich zur Weitergabe längst in der Nahrungsfabrik – zur Abwechslung lagen einmal zwei Ereignisse so nah beieinander, dass sie füreinander Sinn bekamen.
Aber bis wir wussten, welchen, lag das Ereignis wieder fünfundzwanzig Tage in der Vergangenheit. Widerlich! Ich hatte viele Interessen hinsichtlich der Nahrungsfabrik, aber was ich in diesem Augenblick am dringendsten wollte, war dieser Überlichtgeschwindigkeitsfunk. Erstaunlich, dass es so etwas geben konnte. Aber als ich Albert vorwarf, davon überrascht worden zu sein, setzte er sein sanftes, bescheidenes Lächeln auf, rieb mit dem Pfeifenstiel an seinem Ohr und sagte: »Klare Sache, Robin, wenn du die Art von Überraschung meinst, die man spürt, wenn sich eine unwahrscheinliche Möglichkeit als real erweist. Aber eine Möglichkeit war das immer. Überlegen Sie, die Hitschi-Schiffe vermochten fehlerlos zu in Bewegung befindlichen Zielen zu navigieren. Das deutet hin auf die Möglichkeit von Nachrichtenaustausch praktisch ohne Verzögerung über astronomische Entfernungen hinweg – ergo Funk mit Überlichtgeschwindigkeit.«
»Warum hast du mir dann nichts davon gesagt?«, setzte ich nach.
Er kratzte sich mit einem Hausschuh am anderen sockenlosen Fuß.
»Es war nur eine Möglichkeit, Robin, nicht höher eingeschätzt als ein halbes Promille. Etwas, das sein konnte, aber nicht sein musste. Wir hatten bis jetzt einfach nicht genug Anhaltspunkte.«
Ich hätte mit Albert auf dem Weg nach Brasilia reden können, aber ich flog mit Linienmaschinen – die Flugzeuge meines Unternehmens sind für solche Entfernungen nicht schnell genug –, sodass ich meine Zeit rein mit Sprechverbindung in dienstlichen Angelegenheiten und mit Morton verbrachte. Und natürlich mit Harriet, die Anweisung hatte, sich jede Stunde mit einem Kurzbericht über Essie zu melden, es sei denn, ich schlief.
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