Oder gab es eine andere Wahl? Diese verdammte Nahrungsfabrik, die so unbeirrt ihrem Kurs folgte. Was, wenn er die Steuerung fand? Was, wenn er lernte, die Richtung zu verändern, damit sie ihn nicht in drei Jahren und länger, sondern sofort, innerhalb von Tagen, zur Erde brachte? Gewiss, dann war das Schicksal seiner Familie besiegelt, nicht wahr? Vielleicht aber auch nicht. Vielleicht würden sie, wenn sie überhaupt zurückkehrten, zur Nahrungsfabrik zurückkommen, egal wo sie sein mochte. Selbst in einer engen Umlaufbahn um die Erde! Und wie herrlich dann jedermanns Probleme auf einen Schlag gelöst wären!
Er warf den Rest der Packung in die Toilette, um sie dem Speicher für organische Materie zuzuführen.
»Du bist verrückt, Peter«, hielt er sich vor. Der Makel dieser Vorstellung ließ sich nicht übersehen; er hatte alles abgesucht und die Steuerung der Nahrungsfabrik nicht gefunden.
Das Rattern des Druckers rettete ihn vor seinen Gedanken. Er zog die Blätter aus der Maschine und überflog sie stirnrunzelnd. So viel Arbeit! Mindestens zwanzig Stunden! Und nicht nur die Zeit, sondern auch noch so viel schwere körperliche Arbeit! Er würde in den Weltraum hinaus müssen, um Rohre von den Stützen hereinzuholen, mit denen die Hilfssender befestigt waren, sie abschneiden und ins Innere tragen; erst dann konnte er anfangen, sie zusammenzuschweißen und zu einer Spirale zu formen. Und das nur für den Kondensator des Destillierapparats! Er bemerkte, dass er zu zittern anfing.
Er kam gerade noch rechtzeitig auf die Toilette.
»Vera«, krächzte er. »Ich brauche Medikamente dafür.«
»Sofort … Mr. Herter. Im Sanitätskasten finden Sie Tabletten mit der Bezeichnung …«
»Idiotin! Der Sanitätskasten ist mit nach Wolkenkuckucksheim geflogen!«
»Ach ja … Mr. Herter. Augenblick. Ja. Ich habe für Sie geeignete Medikamente programmiert. Es wird etwa zwanzig Minuten dauern, bis sie hergestellt sind.«
»In zwanzig Minuten bin ich tot«, zischte er. Aber es war nichts zu ändern, und er saß zwanzig Minuten herum und kochte innerlich, während der Druck in ihm stieg und stieg. Krankheit, Hunger, Einsamkeit, Überarbeitung, Groll, Angst. Zorn! Darauf lief am Ende alles hinaus. Zorn! Viele Vektoren. Eine Vektorsumme. Bis Veras Spender die Pillen ausspuckte, hatte der Zorn alles andere überwältigt. Er schluckte sie gierig und zog sich in sein Privatabteil zurück, um zu sehen, was geschehen würde.
Tatsächlich schienen sie zu wirken. Er ließ sich zurücksinken, als das Feuer in seinem Bauch nachließ, und schlief ein.
Als er wach wurde, fühlte er sich wenigstens körperlich besser. Er wusch sich, putzte sich die Zähne, bürstete seine schütteren blonden Haare und bemerkte erst dann den Christbaum von blinkenden Lichtern an Veras Konsole, die seine Aufmerksamkeit zu erregen versuchten. Auf dem Bildschirm standen in großen, roten Lettern die Worte:
ERBITTE DRINGEND ERLAUBNIS
ZUR RÜCKKEHR IN NORMALZUSTAND
Er lachte leise in sich hinein. Er hatte vergessen, die Korrekturschaltung abzustellen. Als er den Computer anwies weiterzumachen, gab es einen irren Ausbruch von Alarmglocken und Signallampen, einen Schwall von Papier aus dem Drucker, und dazu ertönte eine Stimme. Die seiner älteren Tochter, aus dem Speicher Veras: »Hallo, Paps. Tut uns Leid, dass wir dich nicht erreichen konnten, um dir zu sagen, dass wir sicher gelandet sind. Wir sehen uns jetzt um. Unterhalten können wir uns später.«
Weil Peter Herter seine Familie liebte, überflutete die Freude über ihre sichere Ankunft sein Herz und hielt ihn aufrecht – mehrere Stunden lang. Fast zwei Tage. Aber in einer Atmosphäre von Ärgernissen und Sorgen gedeiht die Freude nicht. Er sprach mit Lurvy – zweimal; jedes Mal nicht länger als dreißig Sekunden. Mehr schaffte Vera einfach nicht. Vera war noch mehr überfordert als Peter, verschlankt und umgebaut, wie sie war, wenn sie die Kommunikation zwischen dem Hitschi-Himmel und der Erde bewältigen musste und dringende Befehle zurückzustellen hatte, sobald noch dringlichere Anweisungen eintrafen. Die eine Sprechverbindung mit dem Hitschi-Gebilde konnte das auferlegte Volumen nicht bewältigen, und bloßes Geplauder zwischen Vater und Tochter war nicht zulässig.
Das war nicht ungerecht, gab Peter zu. Was für wundersame Dinge sie fanden! Was ungerecht erschien, war allein, dass er weitab vom Schuss saß. Was ungerecht erschien, war, dass Vera bei der ganzen dringenden und sinnvollen Arbeit die Zeit fand, ihm haufenweise Befehle zu übermitteln, die ihm persönlich galten. Keiner davon war vernünftig. Manche konnten gar nicht ausgeführt werden. Die Triebwerke umbauen. CHON-Nahrung auflisten. Sofort vollständige Analyse von Päckchen mit den Maßen 2 x 3 x 12,5 cm in roten und lavendelblauen Verpackungen. Keine überflüssigen Analysen einreichen. Metallurgische Analyse »Traumliege« übermitteln. Keine Untersuchung von Hand an »Traumliege«. Tote Menschen über Hitschi-Antrieb befragen! Wie leicht das zu befehlen war! Wie schwer auszuführen, wenn sie salbaderten und schimpften und faselten und sich beklagten, sobald er sie überhaupt zum Sprechen bringen konnte. Manche Befehle von der Erde widersprachen anderen, und die meisten kamen ganz ungeordnet daher, mit überholten Dringlichkeitsstufen. Und manche trafen überhaupt nicht ein. Die Speicherschaltungen der armen Vera waren bald überlastet, und sie versuchte unnötige Daten loszuwerden, indem sie diese für ihn ausdruckte, damit er sich auf irgendeine Weise damit befasste. Doch das schuf neue Probleme, weil das Verarbeitungssystem, das die Druckrollen versorgte, dasselbe war, das ihn ernährte, und weil die organischen Stoffe schon zu knapp waren. Peter musste also die Toilette öffnen und CHON-Nahrung hineinschütten, um sich dann wieder an den Bau des Destillierapparates zu machen.
Auch wenn Vera Zeit für ihn hatte, konnte er ihr keine widmen. Sich in den Raumanzug zwängen. Durch die Luftschleuse hinaus zur Außenhülle. Rohre abtrennen und zusammenbinden. Schwitzend ins Schiff zurückschleifen, immer gegen den störrischen Schub der Nahrungsfabrik, der einen rasend machte, während sie irgendwohin flog. Er konnte Zeit nur für einen gelegentlichen Blick auf die Bilder erübrigen, die vom Hitschi-Himmel eintrafen. Vera zeigte sie, wie sie kamen, ein Bild nach dem anderen; aber dann wurde jedes entfernt, um Platz für das nächste zu schaffen, und wenn Peter nicht davor stand und sie betrachtete, blieben sie ungesehen. Trotz alledem – was für ein Wunder! Die Toten Menschen. Die Korridore des Hitschi-Himmels. Die Alten – Peter blieb beinahe das Herz stehen, als er das große, breite Gesicht eines Alten auf dem Schirm betrachtete. Aber er hatte nur einen Augenblick Zeit, dann war der Apparat fertig, und er musste sich der nächsten Aufgabe widmen. Sich ein Joch für die Schultern bauen. Plastikbahnen zusammenheften (wieder eine Belastung für den Verarbeiter!), um Eimer herzustellen. Ungeduldig an der einen funktionierenden – gerade noch funktionierenden! – Wasserquelle sitzen, die biegsame Scheibe an den Hahn halten und das übel riechende Getröpfel in den Säcken auffangen. Das Wasser zurückschleppen, die Hälfte in den Destillierapparat, die andere in die Verarbeitungstanks. Schlafen, wann er konnte. Essen, wenn er sich dazu zu zwingen vermochte. Sich um seine eigenen Bedürfnisse kümmern, wenn sie sich meldeten. Noch eine Nachricht aus Dortmund, diesmal von dreihundert Angestellten der Stadt – wie dumm Vera war, dass sie solchen Mist annahm! Eine verschlüsselte Mitteilung seines Rechtsanwalts, die eine halbe Stunde lang dechiffriert werden musste. Und dann stand da nur: »Versuche günstigere Bedingungen auszuhandeln. Kann nichts versprechen. Empfehle inzwischen, dass Sie sich an alle Anweisungen halten.« Was für ein Trottel! Peter setzte sich fluchend an die Konsole, hieb mit der Hand auf die Korrekturtaste und diktierte seine Antwort: »Wenn ich mich an alle Befehle halte, ist das mein Tod, und was dann?« Und er schickte das im Klartext; mochten Broadhead und die Gateway-Gesellschaft davon halten, was sie wollten.
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