Dasselbe gilt für die Wesen, die den Descolada-Virus geschaffen haben. Ja, sie müssen schon sehr mächtig sein, um so ein Werkzeug schaffen zu können. Doch sie müssen auch herzlos, selbstsüchtig und arrogant sein, um zu glauben, sie könnten alles Leben im Universum manipulieren, wie sie es für richtig halten. Auch das können keine Götter sein.
Jane – nun, Jane mochte eine Göttin sein. Ihr stand eine gewaltige Menge an Informationen zur Verfügung, und sie handelte zum Wohl von anderen, selbst wenn es sie das Leben kosten sollte. Und Andrew Wiggin, er mochte auch ein Gott sein, so klug und freundlich, wie er wirkte, und er suchte nicht seinen eigenen Nutzen, sondern das Wohl der Pequeninos. And Valentine, die sich Demosthenes nannte – sie hatte versucht, anderen Menschen zu helfen, die Wahrheit zu finden und auf dieser Grundlage selbst kluge Entscheidungen treffen zu können. Und Meister Han, der immer versuchte, das Richtige zu tun, selbst wenn es ihn seine Tochter kostete. Vielleicht sogar Ela, die Wissenschaftlerin, obwohl sie nicht alles gewußt hatte, was sie hätte wissen sollen – denn es beschämte sie nicht, die Wahrheit von einem Dienstmädchen zu erfahren.
Natürlich waren das nicht die Götter, die im Unendlichen Westen lebten, im Palast der Königlichen Mutter. Noch hielten sie sich selbst für Götter – sie hätten schon allein über diesen Gedanken gelacht. Doch im Vergleich zu ihr waren sie in der Tat Götter. Sie waren um so vieles klüger als Wang-mu, und soweit Wang-mu ihre Ziele verstehen konnte, versuchten sie, anderen Menschen zu helfen, so klug und mächtig wie möglich zu werden. Obwohl sich Wang-mu vielleicht also irren mochte, wußte sie, daß ihre Entscheidung, mit diesen Menschen zusammenzuarbeiten, die richtige war.
›Ender kommt, um mit uns zu sprechen.‹
›Zu mir kommt er ständig, um mit mir zu sprechen.‹
›Und wir können direkt in seinen Geist sprechen. Aber er besteht darauf, zu uns zu kommen. Wenn er uns nicht sieht, hat er nicht das Gefühl, mit uns zu sprechen. Es fällt ihm schwerer, zwischen seinen Gedanken und denen, die wir seinem Geist eingeben, zu unterscheiden, wenn wir uns aus der Ferne unterhalten. Deshalb kommt er.‹
›Und dir gefällt das nicht?‹
›Er will, daß wir ihm Antworten geben, und wir kennen keine.‹
›Du weißt alles, was die Menschen wissen. Du bist ins All vorgestoßen, nicht wahr? Du brauchst nicht einmal ihre Verkürzer, um von einer Welt zur anderen zu sprechen.‹
›Diese Menschen sind so hungrig auf Antworten. Sie haben so viele Fragen.‹
›Du weißt, daß auch wir Fragen haben.‹
›Sie wollen ständig wissen, warum, warum, warum. Oder wie. Wollen alles zu einem hübschen kleinen Bündel verschnüren, wie einen Kokon. Wir tun das nur, wenn wir eine Metamorphose zu einer Königin durchleben.‹
›Sie wollen alles verstehen. Aber du weißt, daß das auch bei uns der Fall ist.‹
›Ja, ihr würdet gern glauben, ihr wäret genau wie die Menschen, nicht wahr? Aber du bist nicht wie Ender. Nicht wie die Menschen. Er muß den Grund von allem wissen, muß aus allem eine Geschichte machen, und wir kennen keine Geschichten. Wir kennen Erinnerungen. Wir kennen Dinge, die gerade geschehen. Aber wir wissen nicht, warum sie geschehen, nicht so, wie er es gern hätte.‹
›Natürlich weißt du das.‹
›Uns ist es sogar gleichgültig, warum etwas geschieht, jedenfalls so, wie die Menschen es verstehen. Wir finden soviel heraus, wie wir wissen müssen, um etwas bewerkstelligen zu können, aber sie wollen immer mehr wissen, als sie wissen müssen. Nachdem sie etwas zum Funktionieren gebracht haben, wollen sie immer noch herausfinden, warum es funktioniert, und was der Grund dafür ist, daß es funktioniert.‹
›Sind wir nicht genauso?‹
›Vielleicht werdet ihr so sein, wenn sich die Descolada nicht mehr bei euch einmischt.‹
›Oder wir werden vielleicht wie deine Arbeiter sein.‹
›Wenn es so kommen sollte, wird es euch gleichgültig sein. Ihr werdet alle sehr glücklich sein. Die Intelligenz macht euch unglücklich. Die Arbeiter sind entweder hungrig oder nicht hungrig. Haben Schmerzen oder keine Schmerzen. Sie sind niemals neugierig oder enttäuscht oder erzürnt oder beschämt. Und wenn es um solche Dinge geht, lassen diese Menschen euch und mich wie Arbeiter aussehen.‹
›Ich glaube, du kennst uns einfach nicht gut genug, um einen Vergleich ziehen zu können.‹
›Wir waren in deinem Kopf, und wir waren in Enders Kopf, und wir sind seit tausend Generationen in unseren eigenen Köpfen, und im Vergleich mit diesen Menschen scheinen wir zu schlafen. Selbst wenn sie schlafen, schlafen sie nicht. Erdgeborene Tiere machen das in ihren Gehirnen – eine Art verrücktes Abfeuern von Synapsen, kontrollierter Wahnsinn. Der Teil ihres Gehirns, der Anblicke oder Geräusche speichert, feuert alle zwei oder drei Stunden los, während sie schlafen; selbst wenn alle Anblicke oder Geräusche völliger, zufälliger Unsinn sind, versucht ihr Gehirn trotzdem noch, es zu etwas Sinnvollem zu verarbeiten. Sie versuchen, Geschichten daraus zu machen. Es ist ein völlig zufälliger Unsinn mit keiner möglichen Beziehung zur echten Welt, und doch verwandeln sie es in diese verrückten Geschichten. Und dann vergessen sie sie. Aber wenn sie sich erinnern, versuchen sie, Geschichten aus diesen verrückten Geschichten zu machen und sie in ihr echtes Leben einzufügen.‹
›Wir wissen von ihren Träumen.‹
›Vielleicht werdet ihr ohne die Descolada auch träumen.‹
›Warum sollten wir träumen wollen? Träume sind bedeutungslos. Zufällige Aktivitäten der Neuronensynapsen ihrer Gehirne.‹
›Sie praktizieren es. Sie machen es ständig. Stoßen dabei auf Geschichten. Ziehen Verbindungen. Machen Sinn aus dem Unsinn.‹
›Was für einen Nutzen haben Träume, wenn sie nichts bedeuten?‹
›Das ist es ja gerade. Sie haben einen Hunger, von dem wir nichts wissen. Den Hunger nach Antworten. Den Hunger, Sinn zu finden. Den Hunger nach Geschichten.‹
›Wir haben Geschichten.‹
›Ihr erinnert euch an Taten. Sie erfinden Taten. Sie verändern die Bedeutung ihrer Geschichten. Sie wandeln Dinge um, so daß dieselbe Erinnerung tausend verschiedene Dinge bedeuten kann. Selbst in der Zufälligkeit ihrer Träume finden sie manchmal etwas, das alles erhellt. Kein einziger Mensch hat einen Verstand, der dem deinen auch nur nahe kommt. Oder unserem. Nicht annähernd so mächtig. Und ihr Leben ist so kurz, sie sterben so schnell. Doch in dem Jahrhundert, das sie vielleicht haben, finden sie zehntausend Bedeutungen für jede eine, die wir gefunden haben.‹
›Die meisten davon sind falsch.‹
›Selbst wenn die überwältigende Mehrzahl davon falsch ist, selbst wenn neunundneunzig von hundert dumm und falsch sind, bleiben ihnen von zehntausend Ideen immer noch hundert gute. So gleichen sie aus, daß sie so dumm sind und ein so kurzes Leben und kleines Gedächtnis haben.‹
›Träume und Wahnsinn.‹
›Magie und Mysterien und Philosophie.‹
›Du willst doch nicht behaupten, daß du nie Geschichten ersonnen hast. Was du mir gerade erzählt hast, ist eine Geschichte.‹
›Ich weiß.‹
›Siehst du? Die Menschen können nichts, was du nicht auch kannst.‹
›Verstehst du denn nicht? Selbst diese Geschichte habe ich aus Enders Geist. Es ist seine Geschichte. Und er hat ihren Kern von einem anderen Menschen, aus einem Buch, das er gelesen hat. Er hat es mit Dingen kombiniert, die ihm einfielen, bis alles Sinn für ihn ergab. Es ist alles in seinem Kopf. Wir hingegen sind wie du. Wir haben eine klare Sicht der Welt. Ich habe keine Probleme, meinen Weg durch deinen Geist zu finden. Alles ist ordentlich, vernünftig und klar. Du würdest dich in meinem Geist genauso zu Hause fühlen. In deinem Kopf ist die Wirklichkeit, so gut du sie verstehst. Doch in Enders Geist ist Wahnsinn. Tausende miteinander im Wettstreit liegender, gegensätzlicher, unmöglicher Visionen, die überhaupt keinen Sinn ergeben, weil sie nicht alle zusammenpassen können. Doch irgendwie passen sie zusammen; er sorgt dafür, daß sie zusammenpassen, heute so, morgen so, wie es gerade nötig ist. Als ob er für jedes neue Problem, dem er gerade gegenübersteht, eine neue Ideen-Maschinerie in seinem Kopf erzeugen könnte. Als ob er ein neues Universum entwirft, in dem er leben kann, jede Stunde ein neues, oftmals hoffnungslos falsches. Und er macht Fehler und trifft Fehlurteile, doch irgendwann findet er ein so perfekt richtiges, daß es die Dinge öffnet wie ein Wunder, und dann schaue ich durch seine Augen und sehe die Welt auf seine neue Art und Weise, und das verändert alles. Wahnsinn und dann Erleuchtung. Wir wissen alles, was es zu wissen gab, bevor wir auf diese Menschen stießen, bevor wir unsere Verbindung mit Enders Verstand errichteten. Jetzt stellen wir fest, daß es so viele Möglichkeiten gibt, ein und dieselbe Sache zu wissen, daß wir nie wieder alle Möglichkeiten finden können.‹
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