Schon seit dem frühen Morgen herrschte im Buchladen Hochbetrieb. Ken Dutton sah Harry Reddington am Stock hereinschlurfen, hatte aber alle Hände voll zu tun, so daß er ihn nicht begrüßen konnte.
Früher, das wußte Ken, war Harry viel Motorrad gefahren, jetzt aber wirkte seine einst athletische Gestalt schwabbelig. Er war im Unterschied zu früher glatt rasiert und trug das Haar kurz geschnitten. Sein Bauch war wirklich so massig, wie man es Ken beschrieben hatte.
Harry blieb gleich an der Tür stehen und ließ den Blick über die Regale gleiten, bevor er auf Ken hinter der Theke zuging. »Hallo.«
»Tag, Harry. Was führt dich her?«
Harry fuhr sich durch das ergrauende Haar, dem man immer noch ansah, daß es einst flammend rot gewesen war. »Ich hab die Nachrichten gehört. Viel haben sie über das Raumschiff ja nicht gesagt. Es kommt immer näher… die meisten von den Büchern hier dürften eine Stunde nach seiner Landung veraltet sein.«
»Manche bestimmt. Vielleicht die medizinischen. Vielleicht haben die was gegen alle möglichen Krankheiten und brennen darauf, uns das Geheimnis zu verraten. Andere möglicherweise nicht. Geschichte hat immer einen Sinn. Die hier…« – Dutton machte eine Handbewegung zu einem Regal mit Militaria hin.
»Abwarten. Hast du heute schon mit George gesprochen?«
»Nein, hätte ich wohl müssen«, sagte Dutton. Hol’s der Geier, ich hätte mich an die Leute von der Wagenburg halten sollen, als sie mir die Mitgliedschaft angeboten haben. Mal unauffällig erkundigen. »Ich geh nach Feierabend vorbei.«
»Viel Glück«, sagte Harry.
»Hast du mit ihnen gesprochen?«
»Ja. Sie nehmen keinen mehr. Sie kriegen allmählich Schiß. Ein bißchen vor den Außerirdischen, und die schwere Menge vor den Rußkis.« Harry sah nachdenklich drein. »George hat von einem Buch über Kannibalenküche gesprochen und meinte, es beruht auf richtiger wissenschaftlicher Arbeit… wollte wohl ‘nen Witz reißen.«
»Wir führen es nicht. Außerdem bin ich gar nicht sicher, ob ich dir gern eins verkaufen würde, Harry.«
»Man kann ja nie wissen…« Harry konnte nicht länger an sich halten und lachte laut heraus. »Na schön, aber vielleicht brauchen wir Überlebenshandbücher. Ich dachte, ich seh mich mal um.«
Die Regale waren förmlich geplündert. Harry wählte einige Bände aus und trat damit an die Theke. »Das Gesundheitsministerium hat doch ein neues Buch herausgegeben mit Streckgymnastik. Habt ihr das schon?«
»Hatten. Ist längst ausverkauft. Andere waren schon vor dir so schlau.«
»Ken, du gehörst doch bestimmt zur Wagenburg, was?«
Ken zögerte. »Sie haben mal gesagt, ich könnte mitmachen. Ich weiß aber noch nicht, was ich tu.« Und vielleicht ist es dazu auch schon zu spät, großer Gott.
»Hast du schon ‘ne Verabredung zum Abendessen?«
»Weiß nicht. Muß erst anrufen.« Er ging ins Hinterzimmer und wählte Georges Nummer. Vicki meldete sich.
»Hallo«, sagte Ken. »Ah… hier spricht Ken Dutton.«
»Hör ich doch.«
»Ja… ah… Vicki, ist heute abend Sitzung?«
»Nein. Ruf morgen wieder an.«
»Vicki, ich weiß doch, daß Sitzung ist!«
»Ruf morgen an! Oder ist sonst noch was? Also dann, mach’s gut!« Die Leitung war tot.
Ken Dutton ging wieder in den Laden zurück und sagte zu Harry: »Heute abend bin ich frei. Wir können gleich hier im Einkaufszentrum essen, dann haben wir keinen Ärger mit dem Stoßverkehr.«
* * *
Jeri Wilson gab ihrer zehnjährigen Tochter einen GuteNacht Kuß und stellte überrascht fest, wie leicht es ihr fiel weiterzulächeln, bis das Kind auf sein Zimmer gegangen war. Melissa ähnelte im Körperbau der Mutter, ihr Haar war etwas dunkler und nicht ganz so fein, und ihr Gesicht war recht hübsch. Sicherlich würde sie später einmal ihren Eindruck auf Männer nicht verfehlen.
Jeri wartete, bis der Lichtspalt unter Melissas Tür erlosch.
Jetzt schläft sie wohl. Bestimmt ist sie müde. Auch ich bin müde. Das Lächeln schwand von Jeris Gesicht. Es war ein so herrlicher Tag gewesen, der schönste seit Wochen, bis sie heimgekommen war und die Post gefunden hatte.
Sie ging ins Wohnzimmer. Einer teuren Vitrine entnahm sie eine rote Kristallkaraffe und ein dazu passendes Glas. Die Muranosachen haben wir in Venedig gekauft. Eigentlich konnten wir uns die ganze Reise nicht leisten. Ein wunderbarer Sommer.
Sie goß sich ein Glas billigen Sherry ein und setzte sich auf das Sofa. Sie konnte die Tränen nicht mehr zurückhalten.
Der Teufel soll dich holen, David Wilson! Sie nahm den Umschlag aus ihrer Schürzentasche; er war in Cheyenne Wells im Staat Colorado abgestempelt. Der Brief trug keine Unterschrift. Die Handschrift mochte die eines Mannes sein, aber sicher war Jeri nicht.
»Liebe Mrs. Wilson«, hieß es darin. »Wenn Sie Ihren Mann wirklich halten wollen, sollten Sie sich etwas einfallen lassen, denn er hat eine Neue.«
Natürlich hat er, dachte Jeri. Er ist ja schon seit fast zwei Jahren weg und hat vor sechs Monaten die Scheidung eingereicht. Es war unvermeidlich…
So oder so, sie dachte nicht gern an die Sache. Bilder traten vor ihr inneres Auge: David kam nackt unter der Dusche hervor. Oder: sie lag mit ihm spät abends am Strand bei Malibu, beide in Hochstimmung vom Champagner. Sie hatten Davids Doktortitel gefeiert und sich geliebt. Zwar hatte das dritte Mal mehr Anstrengung gefordert als Erfüllung gebracht, dennoch war es eine zauberhafte Nacht gewesen.
Nach dem erstenmal hatte sie zu ihm gesagt: »Ich nehm schon eine ganze Weile die Pille nicht mehr…«
»Ich weiß«, hatte er geantwortet.
Sie stellte sich gern vor, daß Melissa in jener Nacht gezeugt worden war. Bestimmt aber war es in jener wunderbaren Woche geschehen. Fünf Monate später gab Jeri ihre Anstellung als Wissenschaftslektorin für ein Hochschulmagazin auf. Davids Studium war beendet, er hatte eine erstklassige Stelle gefunden, und sie konnten das Leben genießen…
Sie nippte an ihrem Sherry und leerte dann das Glas in einem Zug. Es kostete sie Mühe, es nicht zu Boden zu schleudern und zerschellen zu lassen. Auf wen bin ich bloß so wütend?
Auf mich selbst. Ich bin eine blöde Gans. Sie zerknüllte den Brief, strich ihn wieder glatt und goß sich ein weiteres Glas Sherry ein. So oft sie sich die Augen auch wischte, die Tränen kamen immer wieder.
Drei Gläser Sherry hatte sie getrunken, als das Telefon läutete. Zuerst wollte sie es ignorieren, aber vielleicht ging es ja um Melissa. Vielleicht war es sogar David; manchmal rief er noch an. Was, wenn er es ist und sagt, daß er mich braucht?
»Hallo.«
»Jeri, hier spricht Vicki.«
»Oh.«
»Hast du schon das Neueste gehört?« fragte Vicki.
Wie könntest du etwas über David wissen – »Was soll das denn sein?«
»Das Raumschiff.«
»… was?«
»Jeri, wo hast du denn den ganzen Tag gesteckt? Machst du Winterschlaf?«
»Nein, ich hab mit Melissa am Angeles Crest gepicknickt.«
»Dann hast du also die Nachrichtensendung nicht gesehen. Die Astronomen haben im Sonnensystem ein Raumschiff mit Außerirdischen entdeckt, das auf die Erde zukommt.«
»Du nimmst mich wohl auf den Arm?«
»Schalt doch einfach Kanal Vier ein! Ich ruf in einer halben Stunde wieder an. Wir müssen miteinander reden.«
Saturn also. Sie kamen vom Saturn, und niemand wußte, seit wann sie sich dort aufgehalten hatten. Jeri mußte an einen Bildschirm im JPL denken. Drei ineinander verflochtene Ringe. Davids schmerzhafter Griff um ihren Arm.
Das war – das lag doch mehr als zehn Jahre zurück! Da war ich um die Zwanzig, ich hatte David, und alles war Sonnenschein.
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