»Ja.«
»Jemand muß unsere Maßnahmen koordinieren und kommandieren. Wer?«
Er meint etwas Bestimmtes, dachte Narowtschatow. Immer meint er etwas, das er nicht sagt. Er ist gerissen, manchmal zu gerissen für mich, denn ich verstehe ihn nicht.
Wer sollte kommandieren? Die Nachricht, daß sich ein Raumschiff der Außerirdischen näherte, hatte im Kreml eine Art Panik ausgelöst. Alle waren aufgeregt, und das empfindliche Gleichgewicht im Politbüro war in Gefahr. Wer konnte kommandieren? Narowtschatow zuckte die Schultern. »Ich hatte gedacht, Marschall Ugatow…«
»Gewiß wird die Armee Vorschläge machen, und wir werden sie uns ebenso anhören wie die vom KGB.« Der Vorsitzende sah nach wie vor nachdenklich drein.
Was hat er vor? Der Verteidigungsrat tagt in einer Stunde. Die Spitzen von Heer und KGB. Der Oberste Parteitheoretiker. Außerdem der Vorsitzende Petrowski und ich, weil mich Petrowski zu seinem Mitarbeiter ernannt hat. Bei der Zusammenkunft wird alles geklärt, dann kommt die Sitzung des gesamten Politbüros, und anschließend wird sich das Zentralkomitee hinter unsere Beschlüsse stellen. Nur – was werden wir beschließen? Er sah zu Petrowski hin, doch der Vorsitzende schien aufmerksam in einem Dokument auf seinem Schreibtisch zu lesen.
Was wollte Anatoli Wladimirowitsch? Die Sowjetunion wurde von einem Dreigespann aus Spitzenvertretern der Armee, des KGB und der Partei regiert. Wohl war die Partei dessen schwächstes Glied, doch zugleich hatte sie die größte Machtfülle, weil sie Beförderungen in den beiden anderen Organisationen steuern konnte. Andere Systeme waren erprobt worden, mit nahezu katastrophalen Ergebnissen. Nach Stalins Tod hatten Partei und Armee vor Beria Angst gehabt, dessen NKWD so mächtig gewesen war, daß er einmal in wenigen Wochen fast das gesamte Zentralkomitee kaltgestellt hatte.
Partei und Armee hatten sich verbündet, um der Bedrohung entgegenzuwirken. Damit, daß man Beria mitten aus einer Politbürositzung gezerrt und erschossen hatte, war die Spitze des NKWD liquidiert worden.
Plötzlich sah sich die Partei der von allen Banden befreiten Armee gegenüber, und was sie sah, gefiel ihr überhaupt nicht. Das Militär war in der Bevölkerung beliebt, und es konnte das Volk auf seine Seite bringen. Falls je die Herrschaft der Partei endete, würde nicht die Armeeführung wegen Landesverrats erschossen. Die Armee wäre sogar imstande, die Partei kaltzustellen, wenn sie die Möglichkeit bekam, ihre Kräfte ungehindert zu entfalten.
Da man das keinesfalls zulassen durfte, wurde das NKWD wiedereingesetzt. Man nahm ihm zahlreiche seiner Vollmachten, teilte es in die zivile Miliz und den KGB auf und ließ es zu keinem Zeitpunkt seine einstige Stärke wieder erreichen. Dennoch war es erneut mächtig geworden wie eh und je. Seine Agenten konnten beschuldigen und in ihre Dienste nehmen, wen sie wollten. Seine Arme reichten weit: bis hinauf zu den Spitzen im Kreml, im Politbüro, in der Partei und in der Armee. Wieder einmal änderten sich die Bündnisverhältnisse…
Hier, in diesem Raum, war Herkunft unerheblich. Hier wie im Politbüro selbst war die Wahrheit bekannt. Keine der drei Gewalten durfte die Möglichkeit bekommen, über die anderen zu triumphieren. Armee, Partei und KGB: alle drei mußten stark sein, um das Kräftegleichgewicht aufrechtzuerhalten. Das, und nichts anderes, war das Geheimnis der Herrschaft über Rußland.
Petrowski war ein Meister in dieser Kunst, und jetzt wartete er. Der Hinweis, den er gegeben hatte, war deutlich.
»Ich halte Akademiemitglied Bondarew für überaus geeignet, uns zu beraten und während dieser Krise an der Spitze unseres Raumfahrtprogramms zu stehen«, sagte Narowtschatow. »Sofern Sie damit einverstanden sind, Anatoli Wladimirowitsch.«
»Diese Empfehlung scheint mir passend«, gab Petrowski zurück. »Ich denke, wir sollten bei der Zentralkomiteesitzung das Akademiemitglied Bondarew vorschlagen. Selbstverständlich wird der KGB darauf bestehen, seinen eigenen Mann in diese Stellung zu bringen.«
Mit Sicherheit hatte der KGB bereits jemanden dafür parat, aber die Partei würde die Einsetzung bestätigen müssen. Eine weitere Entscheidung, die hier zu treffen war, bevor die Politbürositzung begann.
»Gruschin«, sagte Narowtschatow. »Dmitri Parfenowitsch Gruschin.«
Petrowski hob fragend eine dichte Braue.
»Ich habe ihn mir angesehen. Der KGB traut ihm, und er ist ein guter Diplomat. Die Parteileute, die ihn kennen, schätzen ihn. Und er hat Naturwissenschaften studiert.«
»Also gut«, nickte Petrowski zufrieden.
»Der KGB ist gespalten«, sagte Narowtschatow. »Einige halten die Sache für einen Trick der CIA, andere wissen es besser. Wir haben es selbst gesehen. Rogatschow hat es mit eigenen Augen in den Bordteleskopen von Kosmograd beobachtet. Die Amerikaner hätten so ein Raumschiff nie bauen können, Anatoli Wladimirowitsch.«
Petrowskis Bauernaugen verhärteten sich. »Möglich. Aber in der Armee glaubt man das nicht. Marschall Ugatow ist davon überzeugt, daß es sich um eine amerikanische Verschwörung handelt, die ihn dazu bringen soll, seine Raketen auf das Ding im Weltraum zu richten, während die Amerikaner gegen uns mobil machen.«
»Aber das täten sie nicht«, sagte Narowtschatow. »Gut und schön, wenn wir das in der Öffentlichkeit sagen, aber wir dürfen uns selbst keinen Täuschungen hingeben.«
Petrowskis Gesicht verfinsterte sich, und einen Augenblick lang empfand Nikolai Nikolajewitsch Furcht. Dann lächelte der Vorsitzende dünn. »Vielleicht bleibt uns keine Wahl«, sagte er. »So oder so, die Sache ist geregelt. Ihr Schwiegersohn übernimmt die Verantwortung für unsere Vorbereitungen im Weltraum. Es ist ohnehin besser, einen Zivilisten damit zu betrauen. Lassen Sie uns die Beförderung von Marinas Mann mit einem Schluck Cognac feiern!«
»Sehr gern.« Narowtschatow trat an den Barschrank, nahm eine Flasche, eine Kristallkaraffe und Gläser heraus. »Was werden die Amerikaner nun tun?« wollte er wissen.
Petrowski hob die Schultern. »Mit uns zusammenarbeiten. Was bleibt ihnen sonst übrig?«
»Es ist nie klug, sie zu unterschätzen.«
»Als ob ich das nicht wüßte – ich habe es Ihnen ja selbst beigebracht.«
Nikolai Nikolajewitsch lächelte breit. »Aber was denken Sie ganz persönlich?«
»Dasselbe wie Sie.«
Einen Augenblick lang überflog ein Schatten Narowtschatows Gesicht, dann sah er das schlaue Lächeln des Vorsitzenden. »Aha«, folgerte er, »der amerikanische Präsident hat Sie angerufen.«
»Nein, ich ihn.«
Nikolai Narowtschatow überlegte, was das zu bedeuten hatte. Petrowski war der einzige Mann in der Sowjetunion, der den Präsidenten der Vereinigten Staaten anrufen konnte, ohne daß Narowtschatow das umgehend erfuhr. »Weiß Trussow davon?« fragte er.
»Ich habe es ihm nicht gesagt«, sagte Petrowski achselzukkend.
Narowtschatow nickte zustimmend. Der KGB verfügte über viele Mittel und Quellen. Wer konnte wissen, was dessen Kommandant herausbekam? »Sie werden das also im Verteidigungsrat vortragen?«
»Ja.«
Nikolai Narowtschatow goß alten Cognac in zwei Gläser und reichte eines über den riesigen Schreibtisch. Lächelnd hob der Vorsitzende das Glas. »Auf die Zusammenarbeit mit den Amerikanern «, sagte er und lachte.
Narowtschatow hob sein Glas gleichfalls, empfand aber Furcht. Dies Raumschiff der Außerirdischen konnte nichts anderes als Schwierigkeiten bedeuten – ausgerechnet jetzt, wo er der Spitze so nahe war, konnte alles scheitern. Der KGB würde seine eigenen, hinterhältigen Pläne verfolgen und so verschlungene Wege gehen, daß nicht einmal alle KGBLeute sie verstehen würden. Und die Militärs taten, was Militärs schon immer getan haben. Raketen wurden in Stellung gebracht, viele Finger lagen dicht über vielen Knöpfen.
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