»Darf ich dir Rosalee vorstellen? Ich hab sie hier kennengelernt. Wir sind seitdem zusammen.«
»Hallo, Rosalee«, sagte Carlotta.
»Wollen wir uns nicht setzen? Harry hat versprochen, uns was vorzusingen.« Roger bat die Gäste, Platz zu nehmen. Millie hatte bereits einen weiteren Tisch herangeschoben und brachte Bier.
»Du hast damit gerechnet, daß er die Frau mitbringt«, flüsterte Rosalee Roger zu.
»Pst. Gehofft zumindest. Du hattest ja gesagt, daß Harry sie kennt.« Sie setzten sich. »Rosalee, ich kannte Carlotta schon als Schulmädchen.«
»Ich freue mich, Sie kennenzulernen, Rosalee.« Der Rote Harry verbeugte sich. »Das hier ist Tim Lewis… und das Lucille Battaglia.« Roger erkannte in Lewis den Mann wieder, der Harry das Lied beigebracht hatte. Lucille war klein, dunkel und hübsch. Sie trug Uniform, dem Rangabzeichen nach war sie Corporal.
»Wann hört es bloß auf zu regnen?« stöhnte Roger.
»In etwa einem halben Jahr, hat unser Oberst gesagt«, erklärte Lucille. »Wenn wir Glück haben.«
»Ihr Oberst?«
»Lieutenant Colonel Crichton. Ich arbeite für sie.«
»Handelt es sich da etwa um Jenny?« wollte Roger wissen.
»Ja.« Carlotta lächelte. »Ich habe Lucille statt ihrer mitgebracht. Jenny konnte nicht.«
»Und jetzt ist sie ein hohes Tier! Da muß Sie ja Großes geleistet haben…«
Carlotta lächelte und schwieg.
»Noch mal sechs Monate Regen also?«
»Wenn wir Glück haben, sonst vielleicht auch länger«, bestätigte Carlotta. »Genau weiß das schließlich niemand.«
»Und was tun Sie da drinnen, Mrs. Dawson?« wollte Rosalee wissen.
»Ich arbeite für die Regierung.«
»Alle wollen wissen, wie es da unten aussieht«, beharrte Roger. »Ich habe gehört, die höheren Chargen hätten ihre Angehörigen dabei.«
»Einige«, gab Carlotta zu. »Aber Harry, erzähl Roger doch mal von unserem Abenteuer mit dem Rüßler.«
»Nun, das war ‘ne kitzlige Angelegenheit«, sagte Harry. »Wir mußten damit rechnen, daß uns die Bauern umbrachten, falls der Rüßler das nicht schon vorher erledigte. Wir also mit dem Motorrad den Hang runter, bis wir den Sumpf riechen konnten. Von da sind wir zu Fuß weitergegangen…«
Roger fand den Roten Harry immer beeindruckender.
Carlotta lächelte jungmädchenhaft. »›Mal sehen, ob er Sie tragen kann‹, hat er gesagt, ›Shina, die Dschungelkönigin.‹ Ein Rüßler mit Sturmgewehr! Anscheinend ist Harry keine Sekunde lang in den Sinn gekommen, daß ich kneifen könnte, und deswegen blieb mir gar nichts anderes übrig. Ein verrückter Kerl. Wißt ihr, was er gesagt hat, als wir wieder bei den Bauern waren?«
Roger schob seinen geleerten Teller beiseite, um sich Notizen machen zu können. Auch die anderen hatten restlos aufgegessen; in solchen Zeiten ließ niemand etwas übrig.
»Ich war noch nie an der Front«, sagte Lucille, »aber ich hab Harpanet gesehen.«
»Können Sie etwas über ihn erzählen.«
»Na, die guten Geschichten kennt Harry alle.«
Ja, aber Carlotta weiß, was läuft. Bei Evelyn hat’s damals geschnackelt, und dann hat sie den Kerl geheiratet, wie hieß er noch? Ach ja: Max, Max Rohrs. Er hatte ‘ne kranke Mutter an der Pazifikküste, oben im Norden, und mußte sich um sie kümmern, und Evelyn ist mit ihm hingezogen. Bestimmt sind sie noch immer in diesem Nest… äh… richtig, Bellingham. Was, zum Teufel, Linda Gillespie da bloß treibt?
»Ich habe noch keinen einzigen Rüßler gesehen«, sagte Tim Lewis, »aber mit vielen geredet, die welche gesehen haben. Darauf habe ich ein Lied über sie geschrieben.«
»Komm, wir wollen das Rüßlerlied singen«, sagte der Rote Harry.
»Doch nicht vor dem Nachtisch«, protestierte Tim Lewis. »Na, von mir aus.« Sie gingen aufs Podium und öffneten Gitarrenkästen. Gäste begannen sich umzusehen. Linda ist bestimmt nicht in Bellingham, um sich mit ‘nem Liebhaber zu treffen. Außerdem bin ich ihr einziger. Also wird auch Ed da sein, General der Luftstreitkräfte, dem persönlichen Stab des Präsidenten zugeordnet. Was mag da nur gespielt werden?
»Worüber denkst du so angestrengt nach?« fragte Rosalee.
»Pst. Sie fangen an zu singen.«
Während des Gesangsvortrags kreisten Rogers Gedanken unaufhörlich um die Frage, was Ed Gillespie in Bellingham tun mochte.
Zum Fliegen wird er nicht da sein. Heutzutage gibt es nichts zu fliegen. Kein größerer Flughafen ist noch einsatzbereit.
Bellingham ist eine Hafenstadt. Alt und verfallen. Da oben hat es auch früher schon immer geregnet…
Viel Regen bedeutet viele Wolken. Eine Eisenbahnlinie führt hin. Alles paßt zusammen. Die bauen da was, das sie unter einer Wolkendecke verstecken wollen. Es fliegt, warum sonst brauchten sie ‘nen General, der Astronaut ist? Dann wird es wohl in den Weltraum fliegen.
Es muß so groß sein, daß sie es in keiner Fabrik verstecken können. Sie bauen also etwas GEWALTIGES, das ins All fliegen soll. Sagenhaft!
Carlotta hatte der langen Ballade geduldig gelauscht. »Harry ist ein Held, ein Barde ist er nicht.«
»Ja«, bestätigte Roger. »Aber schlecht singt er nicht… wie geht’s Linda?«
»Ich habe sie schon seit Monaten nicht gesehen.«
»Du hast doch gesagt…«
»Harry! Das war großartig.« Carlotta erhob sich. »Aber es wird spät.«
»Max und Evelyn wohnen doch in Bellingham.« Ich darf das nicht so auffällig machen. Aber ich muß es wissen… »Ist Linda auch da?«
»Roger, es ist wirklich spät. Tim, es wird Zeit; Lucille, Sie haben morgen früh Dienst.«
»Ja, Ma’am – aber dürfte ich nicht noch etwas bleiben?«
»Nein. Kommen Sie mit!«
»Gut, Ma’am.«
Roger sah zu, wie Carlotta Tim und Lucille aus dem Restaurant bugsierte. »Hat sich nicht die Spur geändert, kommandiert immer noch alle herum.«
»Außer Wes«, sagte Harry.
»Möglich. Harry, Sie sehen aus, als ob Sie noch ‘nen Schluck vertragen könnten.«
»Warum nicht?«
»Nachtisch?«
»Es gibt nur Apfelkuchen, und davon hab ich für ‘ne ganze Weile genug.«
»Ist er denn nicht gut?«
»Schon, aber wenn man ihn einen ganzen Monat lang Abend für Abend essen muß…«
»Ihnen fällt hier wohl die Decke auf den Kopf, was?«
»Tja, ein bißchen schon.«
»Haben Sie nicht gesagt, Sie hätten Benzin?«
»Ja, für mein Motorrad.«
»Möchten Sie nicht als Reporter für die Post arbeiten?«
»Wohin soll’s denn gehen?« wollte Harry wissen.
»Kann ich noch nicht sagen. Aber es ist weit«, sagte Roger. In seinem Kopf drehte es sich. Sie hatten zuviel von dem MaisWhiskey getrunken.
Harry begab sich schwankenden Schrittes zur Toilette.
»Wo willst du hin?« flüsterte Rosalee. »Ich will mit!«
»Das geht nicht.«
»Aber…«
»Ich komm ja wieder«, sagte Roger. »Rosie, dahinter steckt eine Story. So was habe ich im Urin. Vielleicht ist es der größte Knüller, von dem ich je Wind bekommen habe.«
»Diese Carlotta scheint dir ‘nen Floh ins Ohr gesetzt zu haben!«
»Rosie, liebst du mich?«
»Warum fragst du?«
»Weil ich dich liebe. Aber…«
»Aber du witterst eine Geschichte.«
Roger nickte.
Sie nahm seine Hände in ihre. »Und ich kann wirklich nicht mit?«
»Es ist weit, Rosie. Harry hat ein Motorrad. Damit komm ich vielleicht hin, auf keinen Fall in meinem Wagen. Drei auf einem Motorrad geht nicht, selbst wenn Harry einwilligte, was er bestimmt nicht tut.«
»Und warum sollte er dich mitnehmen?«
»Na hör mal! Die Rolle des Helden außer Dienst ist nicht sonderlich befriedigend. Er setzt Speck an. Das gefällt ihm nicht. Außerdem stirbt er hier vor Langeweile. Zum Soldatenspielen ist er zu alt…«
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