Staub war erschöpft, wie so oft dieser Tage, und hatte sich schon neben ihrem Feuer hingelegt. Aber sie war wach, und ihre Augen glänzten. Kieselstein verstand. Sie vermisste Plattnase, ihren ›Mann‹.
Die Leute hatten einen Preis für die immer größeren Gehirne ihrer Kinder gezahlt. Kieselstein war bei der Geburt völlig hilflos gewesen. Sein Gehirn musste sich erst noch voll entwickeln, und es lag eine lange Zeit des Wachsens und Lernens vor ihm, bevor er aus eigener Kraft zu überleben vermochte. Die Unterstützung der Großmütter reichte nicht mehr aus. Eine neue Lebensweise musste sich entwickeln.
Eltern mussten ihren Kindern zuliebe zusammenbleiben: Das war zwar noch keine Monogamie, aber schon sehr nah dran. Die Väter hatten gelernt, dass sie zur Sicherheit in der Nähe bleiben mussten, wenn sie ihr genetisches Erbe an künftige Generationen weitergeben wollten. Die Ovulation der Frauen fand nun im Verborgenen statt, und sie waren fast immer empfängnisbereit. Das war eine Verlockung: Wenn ein Mann in die Aufzucht eines Kinds investieren sollte, musste er sich sicher sein, dass es auch wirklich sein Kind war – und wenn er nicht wusste, wann seine Partnerin fruchtbar war, musste er in der Nähe sein, wenn es soweit war.
Aber es beruhte nicht alles auf Zwang. Paare zogen Sex in der Privatsphäre vor, sofern die in einer so engen und kleinen Gemeinschaft überhaupt möglich war. Sex war ein sozialer Kitt geworden, der Paare zusammenhielt. Die gnadenlose Selektion des Pleistozän formte alles, was die Menschheit ausmachen würde. Sogar die Liebe war ein Nebenprodukt der Evolution. Liebe, und der Schmerz des Verlustes.
Aber die Formung war nicht vollständig. Die sprunghafte Unterhaltung in dieser Hütte war nicht viel mehr als Tratsch. Werkzeugfertigung, Nahrungssuche und andere Tätigkeiten waren noch immer vom Bewusstsein abgetrennt und waren in – immerhin großen – Schubladen sortiert. Und sie kämmten sich noch immer wie Menschenaffen.
Sie waren keine Menschen.
Kieselstein war gereizt, unruhig und fühlte sich beengt. Er entriss Robbe eine Scheibe Nashornfleisch, der laut protestierte: »Mir, mir!« Dann setzte er sich allein in den Eingang der Hütte und schaute aufs Meer hinaus.
Sein Blick schweifte über das karge Land, wo die Leute Erbsen-, Bohnen- und Manioksträucher von Unkraut befreit hatten. Und dahinter wurde der Himmel im Norden und Westen von einem Sonnenuntergang angestrahlt, dessen purpurn-rosiges Licht die Flächen seines Gesichts konturierte. Es war ein wundervoller Eiszeit-Sonnenuntergang. Die Gletscher, die die nördlichen Kontinente abschmirgelten, hatten riesige Mengen Staub in die Atmosphäre befördert, sodass das Sonnenlicht von großen Wolken aus gemahlenem Gestein gefiltert wurde.
Kieselstein fühlte sich gefangen wie einer von Robbes Fischen, der am Spinnennetz festklebte.
Ohne sich dessen richtig bewusst zu sein, tastete er den Boden nach einem Gesteinssplitter ab. Als er einen gefunden hatte, der scharf genug war, führte er ihn zum linken Arm – wobei er nach einer Stelle suchen musste, die noch nicht vernarbt war –, presste den Stein gegen das Fleisch und genoss den köstlich prickelnden Schmerz.
Er wünschte sich, sein Vater wäre hier, damit sie sich gemeinsam ritzen konnten. Wenigstens hatte er den Stein, und der Schmerz war beinahe tröstlich, wenn er in die Haut schnitt. Er schnitt sich mit der Steinklinge den Arm auf und spürte die Wärme seines Blutes. Er zitterte vor Schmerz, genoss aber seine kalte Gewissheit. Er wusste, dass er jederzeit aufzuhören vermochte – und gleichzeitig wusste er, dass er nicht aufhören würde.
Isoliert, niedergeschlagen und mit dem Gefühl, in einer Sackgasse zu stecken, hatte Kieselstein sich in sein Schneckenhaus zurückgezogen. Ein Verhalten, das junge Männer in die Lage versetzt hatte, ihre Kräfte unblutig zu messen, hatte zu Vereinsamung geführt und war destruktiv geworden. Die Individuen von Kieselsteins Art waren noch keine Menschen. Dennoch kannten sie schon Liebe, Verlust – und Sucht.
Hinter ihm in der Dunkelheit beobachtete seine Mutter ihn mit umwölkten Augen.
Kieselstein wurde im ersten Morgengrauen geweckt – aber nicht vom Licht, auch nicht von der Kälte.
Eine Zunge leckte an seinem nackten Fuß. Das war fast wohltuend und riss ihn aus den schlechten Träumen. Und dann war er wach genug, um sich zu fragen, was da wohl an ihm herumschlabberte. Er riss die Augen auf.
Ein struppiger, muskulöser Wolf stand vor ihm. Die Silhouette zeichnete sich gegen den Morgenhimmel ab.
Mit einem Schrei sprang er auf. Der Wolf winselte erschrocken, wich ein paar Schritte zurück und drehte sich knurrend um.
Aber jemand stand neben dem Wolf.
Die Gestalt war mindestens eine Handbreit größer als er. Sie hatte einen schlanken Körper, schmale Schultern und lange, elegante Beine wie ein Storch. Sie hatte schmale Hüften, kleine hohe Brüste und einen langen Hals. Ihr Körper war sehnig und muskulös; er sah die feste Muskulatur der Arme und Beine. Sie wirkte beinahe wie ein Kind, ein großes, hoch aufgeschossenes Kind mit einem noch unfertigen Körper. Aber sie war kein Kind mehr. Das erkannte er an den Brüsten, den Haarbüscheln unter den Armen und an den feinen Linien um die Augen und den Mund.
Die dürren Leute auf der Insel sahen so aus – zumindest vom Hals abwärts. Doch vom Hals aufwärts hatte Kieselstein so etwas noch nie gesehen.
Ihr Kinn lief in einer Art Spitze aus. Ihre Zähne waren weiß und ebenmäßig wie die eines Kindes, als ob sie sie noch nie zum Gerben von Tierhäuten benutzt hätte. Ihr Gesicht wirkte abgeflacht, die Nase klein und eingedrückt. Sie hatte pechschwarzes kurzes Haar. Und der Wulst über den Augen – nun, da war gar kein Wulst. Ihre glatte Stirn ragte senkrecht auf, und dann wölbte der Schädel sich hoch auf wie eine Felskuppel; ganz anders als die Schildkröten-Form seiner Hirnschale.
Sie war ein Mensch – anatomisch ein uneingeschränkt moderner Mensch. Sie hätte von Joan Usebs aufgeregter Menge auf dem Flughafen von Darwin durch einen Tunnel in der Zeit hier herauszutreten vermocht. Aber sie hätte den urtümlichen Kieselstein auch nicht mehr zu erschrecken vermocht, wenn sie das getan hätte.
Ihr Blick wanderte von Kieselstein zu den Leuten – zu Hände, Schrei und den anderen –, die herausgekommen waren, um zu sehen, was da los war. Sie sagte etwas Unverständliches und richtete eine Harpune auf Kieselstein.
Kieselstein starrte sie fasziniert an.
Der Schaft der Harpune war am Ende eingekerbt, und in der Kerbe steckte, mit Harz und fester Schnur befestigt, eine Spitze. Es handelte sich um einen schlanken Zylinder, der in der Mitte nur fingerbreit war. An einer Seite ragten feine Widerhaken aus dem Zylinder. Sie wiesen in die der Flugbahn der Harpune entgegen gesetzte Richtung. Die Oberfläche war nicht etwa rau wie seine Werkzeuge – sie war glatt wie Haut.
Und die Harpune war auch nicht ihr einziger Besitz, wie er nun sah. Sie trug einen Fetzen aus gegerbtem Leder um die Hüfte. Und ein Ding wie ein Netz, vielleicht aus Ranken geflochten, hing ihr um den Hals. Darin befand sich eine Kollektion bearbeiteter Steine. Sie sahen aus wie Feuerstein. Feuerstein war ein schöner Stein und leicht zu bearbeiten; er war auf seiner Wanderung durch Afrika ein paar Mal darauf gestoßen. Aber es gab keinen Feuerstein in der Nähe des Strands. Wie war er also hierher gekommen? Seine Verwirrung steigerte sich.
Doch dann richtete er seine Aufmerksamkeit wieder auf die Harpunenspitze. Sie bestand aus Knochen.
Kieselsteins Leute nutzten Knochensplitter als Kratzer oder Hämmer, um den scharfen Schneiden der Steinwerkzeuge den letzten Schliff zu geben. Aber sie versuchten nicht, Knochen zu formen. Sie waren ein schwieriger Werkstoff, umständlich zu handhaben und neigten dazu, unberechenbar zu splittern. Er hatte noch nie etwas von einer solchen Regelmäßigkeit und mit diesem Finish gesehen, etwas, das von einem derartigen Einfallsreichtum kündete.
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