Kieselstein murmelte etwas vor sich hin und folgte seiner Mutter den Strand entlang.
Als sie Hyäne zur Hütte zurückgebracht hatten, dämmerte es schon.
Die Leute gingen in der Hütte umher und bereiteten sich auf die nächtlichen Aufgaben vor. Die Männer und Frauen gleichermaßen hatten mächtige Schultermuskeln, die unter den ledernen Umhängen sich wie Buckel abzeichneten. Sie hatten bratpfannengroße Hände mit breiten, spateiförmigen Fingerspitzen. Die dickwandigen Knochen hielten große Belastungen aus, und die Gelenke waren schwer und massig. Das waren massive Leute, als ob sie aus der Erde selbst geformt worden wären.
Sie mussten stark sein. In einer rauen Umgebung mussten sie ihr Lebtag hart arbeiten und mit schierer Kraft und emsigem Fleiß ausgleichen, was ihnen an Gehirnschmalz fehlte.
Nur wenige erreichten das Lebensende ohne den Schmerz alter Wunden und Probleme wie Knochenschwund. Es wurde auch kaum jemand älter als vierzig.
Hyänes Wunde war unbeachtlich. Nicht einmal der Umstand, dass er offensichtlich einen Schlag in den Rücken erhalten hatte, und zwar von einer rivalisierenden Gruppe Hominiden jenseits der Klippen, sorgte für Aufsehen. Das Leben war hart. Verletzungen waren an der Tagesordnung.
In der niedrigen, kleinen Hütte gab es kein Licht außer dem Feuer und Tageslicht, das durch Ritzen im Flechtwerk der Wände drang. Es gab auch keine ›Hausordnung‹. An der Rückwand der Hütte häuften sich Knochen, Muschelschalen und Essensreste. Werkzeuge, zum Teil zerbrochen oder erst halbfertig, waren achtlos weggeworfen worden, genauso wie Reste von Essen, Leder, Holz, Stein und Tierhäuten. Der Boden gab auch Aufschluss über die Essgewohnheiten der Gruppe: Bananen, Datteln, Wurzeln und Knollen – vor allem Maniok. Die Erwachsenen verrichteten ihr Geschäft draußen, um die Fliegen fernzuhalten. Aber die Kinder mussten erst noch stubenrein werden, sodass der Boden mit getrocknetem und platt getretenem Kinderkot übersät war.
Es gab nicht einmal feste Feuerstellen. Die Spuren alter Feuer waren als schwarze Kreise aus aufgeschütteten Kieselsteinen und Sand auf dem Hüttenboden und vor der Hütte zu sehen. Wenn der Wind drehte oder ein Teil der Hütte einstürzte, transportierten sie die Glut einfach zu einer anderen Stelle und bauten eine neue Feuerstelle.
Ein Mensch hätte sich in der Hütte den Kopf gestoßen und klaustrophobische Anwandlungen verspürt. Sie war ein infernalischer Saustall und von einem unerträglichen Gestank erfüllt. Für Kieselstein war das aber eine ganz normale Umgebung, wie er sie nie anders kennen gelernt hatte.
An diesem Abend wurden sogar zwei Feuer unterhalten. Hände kümmerte sich ums Feuer, das schon den ganzen Tag lang schwelte. Er streifte auf der Suche nach Brennholz um die Hütte und errichtete einen ordentlichen Scheiterhaufen aus Holz und Laub, um ein helles, heißes Feuer zu erzielen. Er hatte das Fleisch vom Kopf und den Gliedern eines Nashorn-Babys abgezogen und knackte die Knochen überm Feuer, um an das nahrhafte Mark zu gelangen.
Im hinteren Bereich der Hütte arbeiteten Staub und die Frau Grün mit Robbe, Schrei und ein paar Kindern an einer zweiten Feuerstelle. Sie hatten ein paar Steine, aus denen sie Messer und Bohrer herstellten. Damit bereiteten sie die Nahrung zu, die sie im Lauf des Tags im Umkreis von ein paar hundert Metern um die Hütte beschafft hatten. Darunter waren Krustentiere und eine Ratte.
Bald hing dichter Rauch unterm geflochtenen Dach der Hütte. All diese Verrichtungen fanden vor einem Hintergrund aus Grunzen, Gemurmel, Rülpsen und Furzen statt. Es wurde kaum ein Wort gesprochen.
Schrei war eine weitere Überlebende: Sie war das kleine Mädchen, das die Vertreibung aus der alten Siedlung überlebt hatte. Sie war durch diese Erfahrung gezeichnet. Sie hatte immer gekränkelt und ›nah am Wasser gebaut‹. Nun war sie siebzehn und eine erwachsene Frau, und Kieselstein – wie auch Hände und Hyäne – hatten sich schon ein paar Mal mit ihr gepaart. Aber sie war nicht schwanger geworden, und ihr dünner und vergleichsweise zart gebauter Körper hatte Kieselstein kein Vergnügen bereitet.
Es gab ein besonderes ökonomisches Arrangement zwischen diesen Leuten. Männer und Frauen gingen üblicherweise getrennt auf Nahrungssuche und aßen auch getrennt.
Diejenigen, die in der Nähe der Hütte nach Pflanzen, Meeresfrüchten und Kleintieren suchten – meistens Frauen, aber nicht nur –, kochten sie überm Feuer und verspeisten sie mit Werkzeug, das sie aus örtlichen Ressourcen auf die Schnelle herstellten. Diejenigen, die weiter ausschwärmten und auf die Jagd gingen – meistens Männer, aber nicht immer –, verzehrten den Großteil des erbeuteten Fleisches an Ort und Stelle. Nur wenn noch etwas übrig blieb, nahmen sie es mit nach Hause und verteilten es. Die Delikatesse, das Knochenmark, blieb den Jägern vorbehalten, nachdem sie die Knochen in der Hitze des Feuers geknackt hatten.
Daher waren die Frauen in ihrer Eigenschaft als Sammler die Haupt-Ernährer der Gruppe und subventionierten in gewisser Weise die Jagd der Männer. Allerdings bedeutete die Jagd seit jeher mehr als nur Nahrungsbeschaffung. Die Jagdaktivitäten der Männer wiesen immer noch Züge eitler Selbstdarstellung auf. In dieser Hinsicht hatten die Leute seit Weits Zeit keine großen Fortschritte gemacht.
In anderer Hinsicht waren Veränderungen eingetreten. Die Steinwerkzeuge, die die Frauen für die Zubereitung der Nahrung benutzten, waren schwer, doch die Oberflächen und Schneiden wirkten unsauber im Vergleich zu den präzisen Steinäxten, die Axt schon vor über einer Million Jahre zu fertigen vermocht hatte. Doch bei aller Ästhetik war eine Steinaxt für die meisten Aufgaben kaum besser geeignet als ein einfacher scharfkantiger Steinsplitter. In härteren Zeiten hatten Männer und Frauen lernen müssen, bei der Werkzeugfertigung sich möglichst eng an der jeweiligen Aufgabe zu orientieren. Unter diesem Druck hatte man sich vom Diktat der alten Steinaxt-Schablone befreit. Ein mentales ›Tauwetter‹ hatte eingesetzt. Obwohl in manchen Gegenden des Planeten die Steinaxt-Hersteller noch immer mit ihren steinigen Erzeugnissen hausieren gingen, waren dem Erfindungsreichtum und der Vielfalt nun keine Grenzen mehr gesetzt, nachdem der sexuelle Erfolg nicht mehr von der Schönheit steinerner Schneiden abhing.
Allmählich hatte sich eine neue Art der Werkzeugfertigung etabliert. Ein Steinkern wurde so präpariert, dass man mit einem einzigen Hieb einen großen Splitter in der gewünschten Form abzuschlagen vermochte, der dann einer Feinbearbeitung unterzogen wurde. Die Splitter hatten extrem scharfe Kanten, die teilweise am ganzen Umfang nur die Dicke eines Moleküls aufwiesen. Mit den entsprechenden Fertigkeiten vermochte man auf diese Art und Weise eine ganze Werkzeug-Kollektion zu fertigen: Äxte sowieso, aber auch Speerspitzen, Schneiden, Kratzer und Stößel. Es war eine viel effizientere Art der Werkzeugfertigung, auch wenn sie primitiver anmutete.
Zumal diese neue Methode viel mehr kognitive Schritte erforderte als die alte. Man musste in der Lage sein, das richtige Ausgangsmaterial auszuwählen – nicht jeder Stein war gleichermaßen geeignet –, und man musste über eine dynamische Sehfähigkeit verfügen, bei der man nicht nur die Axt im Stein sah, sondern auch die Schneiden, die vom Kern abgeschert wurden.
Nach dem Essen gingen die Leute anderen Verrichtungen nach. Die Frau Grün gerbte ein Stück Antilopenleder, indem sie darauf herumkaute und es zwischen den Zähnen hindurch zog. Sie war eine Expertin im Gerben von Tierhäuten, wovon die verschlissenen und abgebrochenen Zähne kündeten. Die kleineren Kinder wurden nun müde. Sie versammelten sich im Kreis und kämmten sich, wobei sie sich mit den kleinen Händen gegenseitig durchs verfilzte Haar fuhren. Hände versuchte, Hyänes Wunde zu versorgen. Er inspizierte sie unter dem Breiumschlag, roch daran und deckte sie wieder mit dem Umschlag zu.
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