Mit jedem Schritt, den sie sich von zu Hause entfernten, waren sie ängstlicher und verwirrter geworden. Viele waren gestorben. Viele Kinder, die in den Armen verhungernder Flüchtlingsmütter lagen, überlebten nicht lang nach der Geburt.
Schließlich waren sie in ihrer Verzweiflung einem Fluss gefolgt. Sie erreichten die Flussmündung, wo es dichte Mangrovenwälder gab. Hier konnten sie bleiben, weil dieser Ort von niemandem sonst beansprucht wurde. Der Erdboden war großenteils mit brackigem braunem Wasser bedeckt, in dem Krokodile schwammen. Im feuchten Fiebersumpf wimmelte es nur so von Echsen, Schlangen und Insekten, von denen viele – sogar die Wanderameisen – sich verschworen zu haben schienen, die Leute zu vertreiben.
Immerhin gab es Nahrung in Form von Wasserlilienwurzeln, -schösslingen und -stielen. Sogar Mangroven-Früchte wurden von den Hungernden verzehrt. Aber es gab fast kein Fleisch. Und es gab auch nirgends Steine für die Werkzeugfertigung. Es war, als ob sie auf einer großen, durchnässten Matte aus Vegetation zu überleben versucht hätten.
Die aus ihrer gewohnten Umgebung vertriebenen Leute wären vielleicht innerhalb einer Generation ausgestorben, wenn sie sich nicht angepasst hätten.
Es hatte eigentlich ganz unspektakulär begonnen. Eine Frau, Harpunes Urahnin, war im Flusstal weit stromaufwärts gegangen und hatte schließlich trockeneres Land erreicht. Hier in den Flutebenen und saisonalen Sümpfen unterstützte der gut bewässerte, mineralreiche Boden das Wachstum vieler einjähriger Pflanzen, Kräuter, Gemüse, Ranken, Blüten und Pfeilwurzeln. Nach den Jahren im Sumpf hatte sie ein Geschick dafür entwickelt, mit primitiven Holzwerkzeugen und den bloßen Händen Nahrung in morastigem, schwierigem Gelände zu suchen. Sie hatte sich schon den Bauch voll geschlagen und sammelte Wurzeln, die sie ihren Kindern mitbringen wollte.
Und dann begegnete sie dem Fremden. Der Mann aus einer anderen Gruppe weiter flussaufwärts benutzte ein Basalt-Messer, um ein Kaninchen zu häuten. Die beiden starrten sich an – der eine mit Fleisch, die andere mit Wurzeln. Sie hätten fliehen oder versuchen können, sich gegenseitig umzubringen. Aber sie taten es nicht.
Stattdessen tauschten sie: Fleisch für Wurzeln. Und dann gingen sie wieder ihrer Wege.
Nach ein paar Tagen kehrte die Frau zu derselben Stelle zurück. Wieder erschien auch der Mann. Mit finsteren Blicken, argwöhnisch und unfähig zur Verständigung trieben sie wieder Handel, diesmal Muscheln und Krebse von der Flussmündung für zwei Basaltmesser.
So begann es. Weil die Sumpf-Leute in dem Land, wo sie gesiedelt hatten, nicht alles Überlebensnotwendige fanden, tauschten sie die Erzeugnisse des Meers, des Sumpfs und der Flutebene gegen Fleisch, Häute, Stein und Früchte aus dem Landesinnern.
Nach zwei Generationen gingen sie auf Wanderschaft und fingen ein neues Leben an. Sie wurden zu richtigen Nomaden und folgten den großen natürlichen Verkehrswegen, den Küsten und den Wasserläufen im Binnenland. Und überall, wohin sie kamen, trieben sie Handel. Unterwegs spalteten sich Gruppen ab und breiteten sich aus, und allmählich entstanden Handels-Netzwerke. Bald fand man bearbeiteten Stein hunderte Kilometer von dem Ort entfernt, an dem der Steinmetz gesessen hatte, und Muschelschalen tauchten in der Mitte des Kontinents auf.
Dennoch war diese Lebensweise eine Herausforderung. Um Handel zu treiben, musste man ein neues Verständnis der Welt entwickeln. Andere Leute waren nicht mehr nur passive Merkmale der Landschaft wie Felsen und Bäume. Nun musste man sich merken, wer wo lebte, wer was anzubieten hatte und wer freundlich – und ehrlich war. Damit standen die Sumpf-Leute unter dem ungeheuren Druck, sehr schnell viel intelligenter zu werden.
Die Form ihrer Köpfe änderte sich grundlegend. Der Schädel vergrößerte sich, um einem größeren Gehirn Platz zu bieten. Und die neuen Essgewohnheiten und Lebensweisen wirkten sich nachhaltig aufs Gesicht aus. Weil die Zähne nicht mehr dazu dienten, zähe, ungekochte Nahrung zu kauen oder Leder zu gerben, wurden sie schwächer verwurzelt. Weil die Kaumuskulatur sich zurückbildete, wich auch die obere Zahnreihe zurück. Der Unterkiefer sprang weiterhin vor, aber das Gesicht fiel nun senkrecht ab, sodass diese Hominiden auch den letzten Rest der affenartigen Anmutung verloren. Durch den schrumpfenden Kiefer und die nach vorn sich wölbende Stirn wurden neue Aufhängungspunkte für die Gesichtsmuskeln geschaffen, und die alten vorspringenden Brauenwülste verschwanden.
In dem Maß, wie sie an Intelligenz gewannen, vermochten sie auch auf Körperkraft zu verzichten. Ihr Körper verlor die Robustheit der unmittelbaren Vorfahren und nahm wieder so etwas wie die grazile Schlankheit von Weits Leuten an.
Kieselsteins erster Eindruck, dass Harpune kindlich anmutete, war durchaus begründet. Mit den Gesichtszügen und den dünnen Gliedmaßen wirkten diese neuen Leute im Vergleich zu den alten Stämmen wie Kinder, die im Wachstum gehemmt worden waren. Erneut hatten die Gene unter starkem Selektionsdruck Varianten ausgeprägt, die schnell umgesetzt werden konnten: Die Wachstumsgeschwindigkeit der verschiedenen Skelett-Partien zu ändern war eine relativ leichte Übung.
Diese Änderungen waren innerhalb weniger Jahrtausende abgeschlossen. Nach diesem Prozess war Harpune anatomisch mit den Menschen aus Joan Usebs Zeit praktisch identisch, auch was den Schädel und die Strukturierung des Gehirns betraf. Und es war der Handel gewesen, eine neue Art des Umgangs mit anderen Leuten, dem sie diese Fortschritte zu verdanken hatte.
Dennoch war Harpune noch kein Mensch.
Ihr Leben war durch kleinere Erfindungen und eine etwas verbesserte Organisationsstruktur charakterisiert. Ihre Art baute zum Beispiel Herde. Ihr Werkzeugsatz war jedoch kaum fortschrittlicher als der von Kieselstein und seinen Vorfahren. Ihre Sprache war das gleiche unstrukturierte Geplapper. Die Art und Weise, wie sie ihr Leben lebte, zum Beispiel die Sexualität, hatte sie weitgehend unverändert von den Altvorderen übernommen. Es gab noch immer starre Barrieren in ihrem Bewusstsein und zu wenig Verbindungen in der neuronalen Vernetzung des Gehirns. Ein Mensch aus Joan Usebs Zeit wäre wegen der Monotonie, der immergleichen Routinen und Rituale, des Fehlens von Kunst und Sprache – also bei dem total öden und geistig armen Leben – schnell verrückt geworden.
Und menschliche Gestalt hin oder her, diese Leute waren nicht übermäßig erfolgreich gewesen. Obwohl sie sich vom Ursprung im Sumpf des Südwestens über Afrika ausgebreitet hatten, waren sie keine Avantgarde gewesen. Es war schwer, Handel zu treiben, wenn es keine Gleichartigen gab, mit denen man zu tauschen vermochte. Das Überleben der neuen Nomaden stand nach wie vor auf der Kippe, und die meisten Gruppen auf dem Kontinent starben aus.
Den Kindern von Harpune gelang es jedoch, sich über diese kritische Phase hinwegzuretten, und ihre Gene trugen fortan eine ›Flaschenhals‹-Signatur. Die vielen Milliarden Menschen, die künftig aus dieser nicht viel versprechenden Saat hervorgingen, waren genetisch praktisch identisch. Alle Menschen waren Verwandte.
Kieselstein Beziehung zu Harpune erreichte auf einer Jagd den Höhepunkt.
Eines Tages versteckte Kieselstein sich mit dem Wind im Rücken in einem Unterstand und spähte eine Herde friedlich grasender Riesenpferde aus. Der Unterstand bestand aus ein paar Schösslingen, die locker verwoben und mit Palmwedeln und Gras bedeckt waren. Hier lag Kieselstein also mit dem Stoßspeer neben sich und taxierte das große, lahme Tier, das ihr Ziel war.
Und Harpune lag neben ihm. Er war angespannt, wurde von Adrenalin durchflutet, und die Hitze des Tages und der Schweißgeruch des Pferds benebelten ihm die Sinne.
Plötzlich spürte er ihre Finger im Gesicht.
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