Weit war noch jung. Sie machte sich erst noch mit der Welt vertraut und lernte, wie sie sie sich zunutze machen konnte. Aber sie hatte ein tiefes Verständnis der Umwelt. Sie war bereits in der Lage, eine unbekannte Landschaft wie diese einzuschätzen und Nahrungs-, Wasser- und Gefahrenquellen auszumachen – und sogar Routen für die weitere Wanderung zu planen.
Diese Fähigkeit war notwendig. Nachdem Weits Art durch widrige Umstände auf offenes Land verschlagen worden war, hatte sie ein neues Bewusstsein für die Natur entwickeln müssen. Sie war gezwungen, die Gewohnheiten der Wildtiere zu verstehen, die Verteilung der Pflanzen, den Wechsel der Jahreszeiten und die Bedeutung von Spuren, um die endlosen Rätsel der komplexen Savanne – die keinen Fehler verzieh – zu lösen. Im Gegensatz dazu hatte ihr entfernter Vorfahr Capo, der ein paar tausend Kilometer nordwestlich von diesem Ort gelebt hatte und gestorben war, die Merkmale seines üppigen Waldes sich eingeprägt: Unfähig, das Land zu begreifen und neue Muster zu erkennen, hatte das Neue ihn immer wieder in Staunen versetzt.
Nun kehrten die Erwachsenen mit den Kindern zum Felsen zurück. Sie brachten Nahrung mit. Weil sie nackt waren, trugen sie nur so viel, wie sie mit den Händen zu greifen und im Arm zu halten vermochten. Die meisten von ihnen kauten mit vollem Mund. Die Leute aßen so schnell sie konnten. Sie bedienten sich selbst und fütterten nur enge Familienangehörige, wobei sie auch einem Mundraub nicht abgeneigt waren, wenn sie glaubten, nicht dabei erwischt zu werden. Die Mahlzeit verlief schweigend und wurde nur von Rülpsern, genüsslichem beziehungsweise ärgerlichem Grunzen unterbrochen, wenn jemand einen verfaulten Happen erwischte und einem gelegentlichen Wort – »Mir!«, »Nuss«, »Knacken«, »Weh weh weh…«
Das waren simple Substantive und Verben, besitzanzeigende und fordernde Sätze aus einem Wort ohne inhaltliche und grammatische Struktur. Und doch war es eine Sprache: Die Worte waren Begriffe, die sich auf konkrete Dinge bezogen – ein System, das dem Schnattern von Capos Horde und allen anderen Tieren weit überlegen war.
Da kam Weits Bruder, der Bengel. Er trug den schlaffen Kadaver eines kleinen Tieres, vielleicht eines Hasen. Und ihre Mutter Ruhig trug einen Arm voll Wurzeln, Früchte und Palmmark.
Weit bekam plötzlich Hunger. Sie eilte wimmernd, mit ausgestreckten Armen und offenem Mund zu ihrer Mutter.
Ruhig zischte sie an und drehte sich mit der Nahrung theatralisch von ihrer Tochter weg. »Mir! Mir!« Das war ein Tadel, der von bösen Blicken ihrer Großmutter noch verstärkt wurde. Weit war nämlich schon zu alt, um wie ein kleines Kind zu betteln. Sie hätte lieber mitkommen und ihrer Mutter helfen sollen, anstatt ihre Energie damit zu vergeuden, sinnlos durch die Landschaft zu laufen. Nimm dir ein Beispiel an deinem Bruder, dem Bengel, der hart gearbeitet und sogar eigenes Fleisch erbeutet hat… All das in einem Wort.
Man lebte nicht mehr so in den Tag hinein wie in Capos Zeit. Heute versuchten die Erwachsenen, den Kindern etwas beizubringen. Die Welt war zu komplex geworden, als dass die Kinder noch die Zeit gehabt hätten, alle Überlebens-Techniken von Grund auf zu erlernen; man musste sie das Überleben lehren. Und eine der Aufgaben der Alten wie Weits Großmutter bestand darin, ihnen dieses Wissen zu vermitteln.
Dennoch streckte Weit wieder die Hände aus und winselte kläglich wie ein Tier. Nur noch dieses eine Mal. Nur noch heute. Morgen werde ich mithelfen.
»Graah!« Wie Weit kalkuliert hatte, ließ Ruhig die Nahrung auf den Boden fallen. Sie hatte Nüsse und Schmink-Bohnen gesammelt und gab Weit eine Schote, in die sie gleich hineinbiss.
Bengel setzte sich zu seiner Mutter. Er war noch zu jung, um bei den Männern zu sitzen, die sich über ihre eigene Nahrung hermachten. Bengel hatte seinen Hasen mit aller Kraft mittendurch gerissen. Nun riss er den Kopf und die Gliedmaßen ab und schlitzte mit einem spitzen Stein den Brustkorb auf. Aber der kleine Metzger mühte sich sichtlich.
Seine Familie wusste es nicht, aber er war schwer an Hypervitaminose erkrankt. Ein paar Tage zuvor hatte einer der Männer ihm ein paar Brocken von einer Hyänenleber gegeben, die sie in einem kurzen Kampf über den Überresten einer Antilope erlegt hatten. Wie bei den meisten Fleisch fressenden Räubern war die Leber voller Vitamin A gewesen, und diese schleichende Vergiftung würde sich bald im Körper des Jungen bemerkbar machen.
In einem Monat würde er tot sein. In einem Jahr hätte selbst seine Mutter ihn vergessen.
Doch fürs Erste knuffte Ruhig ihn sanft, nahm ihm einen Teil des Hasen ab und gab ihm zu verstehen, dass er mit seiner Schwester teilen sollte.
Seit Capos Zeit war die Welt ständig kühler und trockener geworden.
Nördlich des Äquators erstreckte ein großer Taiga-Gürtel sich über Nordamerika und Asien um die Welt – ein Wald aus immergrünen Bäumen. Und im hohen Norden hatte sich zum ersten Mal seit dreihundert Millionen Jahren eine Tundra herausgebildet. Der Lebensraum, den die Tiere in der Taiga vorfanden, war karg im Vergleich zu den alten Mischwäldern aus Laub- und Nadelbäumen. Gleichzeitig dehnte das Grasland sich aus – Gras war anspruchsloser als Bäume. Jedoch vermochten die Grasflächen im Vergleich zu den schrumpfenden Waldgebieten nur einer verringerten Zahl von Tierarten einen Lebensraum zu bieten. Schließlich kam es im Lauf der Austrocknung wieder zu einem Artensterben.
Trotz abnehmender Qualität war die Quantität des Lebens aber erstaunlich.
Das Erfordernis, jahreszeitlich bedingte Verknappungen des Nahrungsangebots zu überstehen und die Anforderung an den Magen, ganzjährig minderwertige Nahrung zu verdauen, begünstigte die Entwicklung großer Pflanzenfresser. Große Säugetiere, eine neue ›Megafauna‹ in einem Maßstab, wie man ihn seit dem Tod der Dinosaurier nicht gesehen hatte, breiteten sich über die Welt aus. Die urtümlichen Mammuts hatten sich bereits über das nördliche Eurasien verbreitet und wanderten über Landbrücken, die durch den sinkenden Meeresspiegel in regelmäßigen Abständen geschlagen wurden, nach Nordamerika ein. Die in gemäßigtem Klima lebenden Tiere hatten kein Fell und ernährten sich von Blättern anstatt von Gras. Sie sahen aus wie typische Elefanten, hatten aber schon die hohen Kronen und geschwungenen Stoßzähne ihrer wuscheligen Nachfahren.
Gleichzeitig existierten Riesenkamele in Nordamerika, und Asien und Afrika wurden vom mächtigen moschusochsenartigen Sivatherium durchstreift. Eine Art großes Nashorn mit der Bezeichnung Elasmotherium machte das nördliche Eurasien unsicher. Für ein Rhinozeros hatte es lange Beine und ein Horn, das eine Länge von bis zu zwei Metern erreichte. Es sah aus wie ein muskulöses Einhorn.
Und im Gefolge dieser mächtigen Fleischpakete tauchten neue spezialisierte Räuber auf. Die neu entwickelten Katzen hatten die Technik des Tötens perfektioniert. Mit den seitlichen Reißzähnen vermochten sie die Haut zu durchstoßen, zu zerfetzen und in den Körper einzudringen, um dann mit den Schneidezähnen ins Fleisch zu beißen. Die Säbelzahntiger waren die Krönung. Sie waren doppelt so groß wie die Löwen des Menschenzeitalters und mächtige, muskulöse Räuber. Sie hatten die Statur von Bären und kurze kräftige Gliedmaßen. Sie waren auf Kraftentfaltung ausgelegt, nicht auf Geschwindigkeit, und jagten aus dem Hinterhalt. Ihr Maul war so groß, dass sie die Beute darin zu zermalmen vermochten. Gegen die Katzen wirkten selbst die Hunde wie Generalisten; die Katzen wurden die perfekten Landjäger.
Da ertönte ein Ruf von der Ebene. »Schau, schau! Ich, schau ich!« Leute standen auf und schauten, was los war.
Ein Mann näherte sich. Er war groß, muskulöser als der Rest und hatte einen dicken Augenwulst, der wie ein Erker vorsprang. Dieser Mann, Braue, hatte derzeit die Führung inne und war der Chef der engen, wettbewerbsorientierten Gemeinschaft der Männer. Und er hatte sich ein totes Tier um die Schultern gelegt, eine junge Elenantilope.
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