Sie drehte sich zum Felsen um und rannte mit stetigen, raumgreifenden Schritten auf ihn zu.
Die Gruppe umfasste vierundzwanzig Leute.
Die meisten Erwachsenen hatten sich über die Landschaft in der Nähe der verwitterten Sandsteinklippe verstreut. Sie bewegten sich wie schlanke Schatten durch das staubige Gelände und suchten lautlos und routiniert nach Nüssen und kleinen Tieren. Die Mütter kümmerten sich um die kleinsten Kinder; sie hatten sich bei ihnen am Rücken festgeklammert oder krabbelten ihnen zwischen den Füßen umher.
Weits Mutter durchsuchte einen kleinen Akazienhain, der von einer durchziehenden Deinotherium-Herde gründlich verwüstet worden war. Diese urtümlichen Elefantenartigen hatten mit den nach unten gerichteten Stoßzähnen und kurzen Rüsseln die Bäume umgeknickt und zersplittert, den Boden zertrampelt und die Wurzeln ausgerissen. Hominiden waren hier nicht die einzigen Nahrungssucher: Warzenschweine und Buschschweine stießen grunzend und quiekend die hässlichen Schnauzen in die aufgewühlte Erde. Die Zerstörung war erst vor kurzem erfolgt. Weit sah, wie große Käfer den frischen Deinotherium-Dung vergruben, und Erdferkel und Honigdachse wühlten auf der Suche nach den Käferlarven im Boden.
Ein solcher Platz war eine ergiebige Nahrungsquelle. Eine gute Strategie, in einem unbekannten Gebiet Nahrung zu finden, war die, den Spuren anderer Tiere zu folgen, insbesondere ›destruktiver‹ Arten wie Elefanten und Schweinen. In dem verwüsteten Wäldchen würde Weits Mutter Nahrung finden, die sonst verborgen oder unzugänglich gewesen wäre. Inmitten der gefällten Baumstämme fanden sich sogar Hebel, Widerlager und Grabstöcke, um Wurzeln aus dem Boden zu reißen, abgebrochene Äste, von denen man nur noch die Früchte pflücken musste und Palmsplitter, um Mark zu zapfen.
Weits Mutter war eine ruhige, stolze Frau und sogar für ihre Art groß gewachsen; auf sie hätte der Name Ruhig gepasst. Sie hatte zwei Kinder bei sich; das schlafende Baby über der Schulter und einen Sohn. Der Junge war halb so alt wie Weit, aber schon fast so groß wie sie. Ein dürrer Junge, den Weit sich als den Bengel vorstellte: frech, clever und unverschämt erfolgreich, wenn es darum ging, sich der Zuwendung und Großzügigkeit der Mutter zu versichern.
Ruhigs Mutter, Weits Großmutter, war bei ihr. Sie war Mitte Vierzig und schon zu steif, um noch eine große Hilfe bei der Nahrungssuche zu sein. Aber sie unterstützte ihre Tochter, indem sie ein Auge auf das jüngste Kind hatte. Kein Mensch hätte sich gewundert, alte Leute in dieser Gruppe zu sehen; das wäre nur allzu natürlich gewesen. Von den früheren Primaten-Arten war jedoch keine alt geworden – nur wenige hatten überhaupt über die fruchtbaren Jahre hinaus überlebt. Wieso sollten ihre Körper sie am Leben erhalten, wenn sie keinen Beitrag mehr zum Gen-Pool zu leisten vermochten? Doch nun war das anders; bei Weits Art spielten auch alte Leute eine Rolle.
Schnaufend und verstaubt erklomm Weit den Felsen. Er war nur eine hundert Meter durchmessende Erhebung mit Büscheln zähen Grases, ein paar Insekten und Eidechsen. Für die Leute war er jedoch eine temporäre Heimatbasis, eine Insel relativer Sicherheit in dieser offenen Savanne, diesem Meer voller Gefahren. Auf dem Felsen besserten zwei Männer hölzerne Speere aus. Sie wirkten abwesend und ließen die Blicke schweifen, als ob die Hände selbständig arbeiteten. Ein paar der älteren Kinder spielten und bereiteten sich auf diese Art aufs Erwachsenwerden vor. Sie balgten sich, spielten Fangen und übten schon einmal das Balzen. Zwei Sechsjährige spielten ›Onkel Doktor‹ und fummelten sich gegenseitig an den Brustwarzen und Bäuchen herum.
Weit war kein Kind mehr, aber auch noch nicht erwachsen und in dieser Gruppe die Einzige in ihrem Alter. Deshalb sonderte sie sich von den anderen ab und bestieg den Gipfel dieses erodierten Sandsteinfelsens. Sie fand ein Stück eines Antilopenkiefers, den ein Aasfresser hier abgelegt hatte und der von hungrigen Mündern und emsigen Insekten sauber abgenagt worden war. Sie zerschmetterte den Knochen auf dem Stein und schabte mit einer scharfen Kante den Schweiß und Schmutz von Beinen und Bauch.
Von dieser Warte breitete die Landschaft sich wie ein komplexes Panorama aus. Es war ein weites Tal. Ein Ensemble aus Kuppen, erstarrten Lavaströmen, Verwerfungen und Kratern kündete von geologischen Apokalypsen. Im Osten – und hinterm Horizont im Westen – hatte das Land sich aufgewölbt und bildete ein mit fruchtbarem vulkanischem Boden überzogenes Plateau, das bis zu einer Höhe von dreitausend Metern aufragte. Dieses Plateau lief in einer senkrecht ins Tal abstürzenden Wand aus.
Dies war das Rift Valley, ein Riss zwischen zwei aneinandergrenzenden tektonischen Platten. Vom Roten Meer und Äthiopien im Norden verlief er dreitausend Kilometer durch Kenia, Uganda und Tansania und endete in Mosambik im Süden. Seit zwanzig Millionen Jahren hatte die geologische Aktivität in dieser großen Wunde Vulkane erschaffen, Hochländer emporgehoben und Tiefebenen zu Tälern gefaltet, die Wasser zu den größten Seen des Kontinents leiteten. Das Land war auch umgeformt worden, indem Ascheschicht auf Ascheschicht gepackt und breite Lagen aus Schiefer und Schlammstein eingezogen wurden. An den vulkanischen Hängen wuchsen Regenwälder, und ein Flickenteppich aus Vegetation – Waldgebiete, Savanne und Buschland – bedeckte den Boden des Tals. Es war ein üppiger, bunter und vielgestaltiger Ort.
Und er war voller Tiere.
Als die Sonne sich dem Horizont entgegensenkte, wurden die Tiere der Savanne lebendig. Die Nilpferde suhlten sich in den Feuchtgebieten, und die Herden der majestätischen Elefantenartigen wanderten gemächlich über das Grasland. Es gab viele Elefantenarten, die sich nur in der Form des Rückens, des Kopfes und des Rüssels geringfügig unterschieden.
Sie verständigten sich mit lautem Trompeten und zogen wie Geisterschiffe durchs Staub-Meer, das sie aufwirbelten. Wie diese großen Pflanzenfresser hingen auch viele andere Arten vom Gras ab: Hasen, Wildschweine, Schilfratten und Wühlschweine. Zu den Jägern der Pflanzenfresser zählten Schakale, Hyänen und Mungos, die wiederum noch stärkeren Tieren als Beute dienten.
Die Tiere der Savanne wären menschlichen Betrachtern erstaunlich bekannt vorgekommen, denn sie hatten sich schon gut an die dort herrschenden Bedingungen angepasst. Aber der Reichtum und die Vielfalt des Lebens hier hätten einen Beobachter dennoch verblüfft, der nur das Afrika des Menschenzeitalters kannte. Dies war mit Blick auf Anzahl, Vielfalt und Populationsgröße der Säugetierarten die reichste Region der Erde. An diesem überfüllten Ort mit dem fein austarierten Ökosystem lebten Savannen-Bewohner wie Antilopen und Elefanten direkt neben Waldbewohnern wie Schweinen und Ratten. Das Rift Valley war eine üppige Landschaft, die vielen Tierarten wie Elefanten, Schweinen, Antilopen – und Hominiden Gelegenheit zur Anpassung geboten hatte. Das war der Schmelztiegel, in dem Weits Art sich entwickelt hatte.
Aber sie waren nicht hier geblieben.
Nach Capos Ära hatte Weits Art die letzten urzeitlichen Fesseln des Walds abgestreift, war zu Nomaden geworden und hatte sich über Afrika hinaus ausgebreitet: Die ersten Hominiden waren bereits entlang der ganzen Südküste der asiatischen Landmasse ausgeschwärmt. Doch dann hatten Weits Großmütter unwissentlich einen großen Bogen nach Norden, Osten und Süden geschlagen und waren nach vielen Generationen hierher zurückgekehrt, an den Ort, an dem ihre Art entsprungen war.
Weit saß auf der Felskuppe und ließ den Blick prüfend und berechnend über die Landschaft schweifen. Auf ihren Wanderungen folgten die Leute meistens Wasserläufen. Sie waren von Norden zu diesem Ort gekommen, und sie sah den Strom, dem sie gefolgt waren – eine silberne Schlange, die sich durch das Gras und das Buschland schlängelte. Entlang der Ufer war das Land morastig und mit Nährstoffen schier geschwängert. Dort wuchs eine Vielfalt von Bäumen, Büschen und Gräsern, zwischen denen statuettenartige Termitenhügel aufragten. Im Osten stieg das Gelände an und wurde trocken und öde, und im Westen wurde der Wald dichter und bildete einen undurchdringlichen Gürtel. Als sie jedoch nach Süden schaute, erkannte sie die Möglichkeiten von morgen, einen Savannen-Korridor mit der Mischung aus Gras, Büschen und Wäldchen, wie die Leute sie bevorzugten.
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