Joan hob die Augenbrauen. »Meine Güte. Man könnte glatt meinen, es sei ihre Konferenz.«
»Die Frau ist im Show-Business tätig«, sagte Alyce mit kalter Geringschätzung. »Nicht mehr und nicht weniger.«
Mit Elan tippte Alison Scott auf die Kiste neben sich. Eine Wand wurde transparent. Der dicht gedrängten Menge entrang sich ein Keuchen – und dann ertönte ein gedämpfter Ruf. »Bitte bedenken Sie«, sagte Scott, »dass das, was Sie hier sehen, eine genetische Rekonstruktion ist – nicht mehr. Die Einzelheiten wie Hautfarbe und Verhalten hatte man willkürlich festlegen müssen…«
»Mein Gott«, sagte Alyce.
Die Kreatur in der Kiste sah auf den ersten Blick wie ein Schimpanse aus. Das nicht mehr als einen Meter große Geschöpf war ein Weibchen; die Brüste und Genitalien waren unverkennbar. Und sie beherrschte den aufrechten Gang. Joan erkannte das sofort an der besonderen Geometrie der seitlich ausgestellten Hüfte. Im Moment ging sie jedoch nirgends hin. Sie hatte sich in eine Ecke gekauert und die Beine an die Brust gezogen.
»Ich sagte Ihnen doch, Dr. Useb, dass Sie nicht im Staub nach Knochen buddeln müssen«, sagte Bex. »Nun können Sie sich mit Ihren Vorfahren treffen.«
Wider Willen war Joan fasziniert. Ja, sagte sie sich: Ich begegne meinen Vorfahren, den haarigen Großmüttern. Dafür habe ich mein Leben lang gearbeitet. Alison Scott versteht das offensichtlich. Aber ist diese arme Schimäre überhaupt real? Und wenn nicht – wie sahen sie wirklich aus?
Bex fasste Alyce impulsiv an der Hand. »Sehen Sie?« Die roten Augen leuchteten. »Ich habe Ihnen gesagt, dass Sie sich wegen des Aussterbens der Bonobos keine Sorgen machen müssen.«
Alyce seufzte. »Aber Kind, wenn wir schon keinen Platz für die Schimpansen haben, wo sollen wir dann einen Platz für sie finden?«
Der geklonte Australopithecine fletschte vor Entsetzen in einem panischen Grinsen die Zähne.
KAPITEL 9
Die Läufer
Zentral-Kenia, Ostafrika, vor ca. 1,5 Millionen Jahren
Sie liebte es zu rennen, mehr als alles andere in ihrem Leben. Das war es, wozu ihr Körper gemacht war.
Bei einem Sprint schaffte sie hundert Meter in sechs oder sieben Sekunden. Bei einer langsameren Gangart bewältigte sie eine Meile in drei Minuten. Sie konnte rennen. Wenn sie rannte, brannte der Atem in der Lunge, und die Muskeln der langen Beine und pumpenden Arme schienen zu glühen. Sie liebte das stechende Gefühl des Staubs, der auf der nackten, mit Schweiß überzogenen Haut klebte und den Ozon-Geruch des von der Sonne verbrannten, trockenen Landes.
Es war schon spät in der Trockenzeit. Die Mittagshitze lastete schwer auf der Savanne, und die im Zenit stehende Sonne erfüllte die Szenerie mit einer lichten Symmetrie. Das spärliche gelbe Gras zwischen den sanften vulkanischen Hügeln war überall von den großen Pflanzenfresser-Herden abgegrast und zertrampelt. Ihre Wanderwege, die sie kreuzte, waren wie Straßen, die Weiden und Wasserläufe miteinander verbanden. In diesem Zeitalter prägten die großen Grasfresser die Landschaft; von den vielen Arten von Menschen in der Welt hatte noch keine diese Rolle übernommen.
In der Mittagshitze versammelten die Grasfresser sich im Schatten oder lagen einfach im Staub. Sie sah statische Herden elefantenartiger Tiere, die wie graue Wolken in der Ferne anmuteten. Plumpe, langbeinige Straußenvögel pickten lustlos auf dem Erdboden. Schlanke Räuber schliefen bei ihren Jungen. Sogar die Aasfresser, die kreisenden Vögel und die flinken Hyänen ruhten sich von ihrem grässlichen Werk aus. Nichts regte sich außer dem Staub, den sie aufwirbelte, nichts außer ihrem Schatten, der zu einem dunklen Fleck unter ihr geschrumpft war.
Völlig in ihren Körper und die Welt versunken lief sie ohne Plan und Ziel, lief mit einer Geschmeidigkeit und Schnelligkeit, wie sie bisher keiner Primatenart zu Eigen gewesen war.
Sie dachte nicht in menschlichen Kategorien. Sie war sich nichts außer ihres Atems bewusst, der angenehmen schmerzenden Muskeln, des Bauchs und des Lands, das unter ihren Füßen dahinzufliegen schien. Dennoch sah dieses nackte Wesen aus wie ein Mensch.
Sie war groß – über hundertfünfzig Zentimeter; ihre Art war größer als alle anderen Vormenschen. Sie war schlank und geschmeidig und wog nicht mehr als fünfundvierzig Kilogramm; sie hatte dünne Gliedmaßen, Muskeln wie harte Knoten und einen flachen Bauch und Hinterteil. Sie war erst neun Jahre alt, stand aber schon an der Schwelle zum Erwachsenwerden – die Hüften wurden schon breiter, und die kleinen festen Brüste waren schon gerundet. Aber sie war noch im Wachstum. Sie würde eine Größe von annähernd zwei Metern erreichen, die schlanken Proportionen aber beibehalten. Die verschwitzte Haut war kahl außer einem lockigen schwarzen Haarschopf und dunklen Haarbüscheln in der Schamgegend und unter den Armen. Sie hatte allerdings noch so viele Haare wie ein Menschenaffe, nur dass sie zu einem hellen Flaum reduziert waren. Ihr Gesicht war rund und klein mit einer fleischigen Stupsnase, die wie die eines Menschen hervorsprang und nicht wie bei einem Affen flach auflag.
Vielleicht war ihre Brust etwas hoch und etwas konisch; vielleicht hätte sie mit den langen Gliedmaßen auch etwas unproportioniert gewirkt. Aber ihr Körper lag bereits innerhalb der Grenzen menschlicher Variation; sie hätte als Bewohner einer Wüstenregion durchgehen können wie die Dinka im Sudan, die Massai und andere afrikanische Stämme, die eines Tages das Land durchstreifen würden, das sie nun durchquerte.
Sie wirkte menschlich. Nur der Kopf passte nicht ins Bild. Über den Augen verlief ein dicker Knochenwulst, der in eine lange, fliehende Stirn überging. Von dort verlief der Schädelknochen fast waagerecht bis zum Hinterkopf. Die Konturen des Kopfes wurden zwar durch das dichte Haar kaschiert, aber das geringe Schädelvolumen war trotzdem unverkennbar.
Sie hatte den Körper eines Menschen und den Schädel eines Affen. Aber die Augen waren klar und neugierig. Mit ihren neun Jahren war sie – in diesem kurzen Moment aus Leben, Licht und Freiheit und von der Freude über ihren Körper erfüllt – so glücklich, wie sie es nur zu sein vermochte. Für einen menschlichen Betrachter wäre sie eine Schönheit gewesen.
Ihre Leute waren Hominiden, den Menschen näher stehend als Schimpansen und Gorillas und mit der Spezies verwandt, die man eines Tages als Homo ergaster oder Homo erectus bezeichnen würde. In der ganzen Alten Welt lebten viele Varianten und noch mehr Sub-Spezies, die auf demselben Bauplan beruhten. Sie waren eine erfolgreiche und flexible Art, aber es gab nicht annähernd genug Knochen und Schädelfragmente, um ihre ganze Geschichte zu erzählen.
Irgendetwas stob vor ihren Füßen auf. Erschrocken und keuchend blieb sie stehen. Es war eine Schilfratte, ein Nagetier; es war bei der Nahrungssuche gestört worden und huschte davon.
Und sie hörte einen Schrei. »Weit! Weit!«
Sie schaute zurück. Ihre Leute, die sich in der Ferne verschwommen abzeichneten, hatten sich auf dem felsigen Abschnitt versammelt, wo sie die Nacht verbringen wollten. Einer von ihnen, ihre Mutter oder Großmutter, hatte den höchsten Punkt der Felsen erklommen und rief sie durch die vorm Mund zu einem Trichter geformten Hände an. »Weit!« Das war ein Ruf, den kein Menschenaffe hervorzubringen vermocht hätte, nicht einmal Capo. Das war ein Wort.
Die Sonne hatte den Zenit inzwischen überschritten, und die Schatten zu ihren Füßen wurden wieder länger. Bald würden die Tiere aufwachen, und sie wäre dann nicht mehr sicher und würde den Schutz der schlafenden sonnigen Welt verlieren.
Allein und so weit von ihren Leuten entfernt, verspürte sie einen Anflug von Furcht. Jeden Tag, wann immer die Gelegenheit sich ihr bot, rannte sie zu weit weg, und jeden Tag musste sie zurückgerufen werden. Sie hatte keinen Namen. Kein Hominide hatte sich bisher einen Namen gegeben. Doch wenn sie einen gehabt hätte, dann wäre es ›Weit‹ gewesen.
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