Sie alle vermissten die Fellpflege. Das kam sie in diesem ozeanischen Gefängnis am schwersten an. Weißblut zeigte bereits Spuren von ›Überkämmung‹ durch seine zwei jungen Diener; Kopf und Nacken wiesen schon kahle Stellen auf. Deshalb freute Streuner sich, das Junge stundenlang zu verwöhnen, indem sie das Fell sanft mit den Fingern zupfte, kämmte und kitzelte.
Während die Tage ›ins Wasser‹ gingen, wurde das ständig hungrige und durstige Kind jedoch zusehends quengelig. Knäuel streifte übers Floß und giftete sogar die Männchen an. Manchmal bekam sie einen Wutanfall, wobei sie das Laub verwirbelte, ihre Mutter am Fell riss oder halsbrecherisch auf dem Floß umher rannte.
All das setzte Fleck nur noch mehr zu und reizte die anderen.
So ging das Tag für Tag. Die Anthros, die auf diesem Splitter der Trockenheit im Meer gefangen waren, gingen sich allmählich auf die Nerven. Wenn sie mehr Platz gehabt hätten, hätten sie sich dem lästigen Treiben des Kinds zu entziehen vermocht. Wenn sie mehr gewesen wären, hätte die Eifersucht der Jüngeren auf Weißblut keine Rolle gespielt; sie hätten leicht andere paarungsbereite Weibchen gefunden und die Spannung abgebaut, indem sie sich außerhalb von Weißbluts Sichtweite heimlich gepaart hätten.
Aber es gab eben keine größere Gruppe, in der sie Dampf abzulassen, und keine Büsche, in die sich zu schlagen vermocht hätten – und nichts zu essen außer trockenem Laub und nichts zu trinken außer salzigem Meerwasser.
Eines Tages spitzte die Lage sich zu.
Knäuel war wieder einmal ein richtiger Zorngickel. Sie tobte auf dem Floß umher, wobei sie dem geduldig wartenden Meer gefährlich nahe kam, zerrte an Blättern und Rinde und stieß kehlige Schreie aus. Sie war abgemagert, und das schmutzige Fell schlackerte ihr um den kleinen Körper.
Diesmal verscheuchten die Männchen sie jedoch nicht mit einem Klaps. Stattdessen musterten die drei sie mit einer Art Berechnung.
Schließlich sammelte Fleck Knäuel ein. Sie drückte das Kind an die Brust und säugte es, obwohl sie keine Milch mehr hatte.
Weißblut kam auf Fleck zu. Normalerweise näherte er sich ihr allein, doch diesmal wurde er von Brille, dem größeren der Brüder gefolgt. Der weiße Fellrand um die Augen glänzte in der grellen Sonne. Brille kämmte Fleck, und Weißblut setzte sich neben ihn. Allmählich rückten die Finger zu ihrem Bauch und den Genitalien vor. Das war ein eindeutiges Vorspiel zur Paarung.
Fleck zog sich mit einem erschrockenen Blick zurück. Knäuel klammerte sich noch immer an ihren Bauch. Weißblut streichelte ihr jedoch beruhigend den Rücken, bis sie sich setzte und die Annäherung von Brille wieder zuließ. Obwohl Brille ihm ständig nervöse Blicke zuwarf, griff Weißblut nicht ein.
Streuner, die es sich in einer Astgabel bequem gemacht hatte, starrte auf die Männchen. Ihr Verhalten erstaunte sie auf eine Art und Weise, wie Noth es nie zu empfinden vermocht hätte. Je komplexer das Bewusstsein der Primaten wurde, desto stärker schien – mit der einzigartigen Läuterung als Ursprung – eine Art Selbst-Bewusstsein von ihren immer sozialeren Nachkommen auszustrahlen. All das befähigte die Anthros, neue komplexe und subtile Bündnisse zu schließen und Hierarchien zu bilden – und neue Täuschungsmanöver zu inszenieren. Noth hatte ganz genau gewusst, wo sein Platz in der Hierarchie und den Bündnissen seiner Gesellschaft war. Die Anthros waren indes schon einen Schritt weiter: Streuner wusste, dass sie einen niedrigeren Rang innehatte als Fleck, aber sie kannte auch die relativen Positionen der anderen. Sie wusste, dass ein ranghohes Männchen wie Weißblut dieses Verhalten von Brille eigentlich nicht zulassen dürfte – und nicht nur das; er schien ihn sogar noch zu ermutigen, sich mit ›seinem‹ Weibchen zu paaren.
Schließlich stellte Brille sich hinter Fleck und legte ihr die Hände auf die Hüfte. Fleck schickte sich ins Unvermeidliche. Während sie Brille das rosige Hinterteil darbot, nahm sie das schläfrige Kind von der Brust und hielt es Streuner hin.
Und dann machte Weißblut einen Satz. Mit der Präzision des auf Bäumen lebenden Primaten, der er schließlich war, entriss Weißblut Fleck das Kind. Er packte das Kind im Genick und lief zu Linkshänder, schnell gefolgt von einem nervösen Brille.
Fleck schien von dem Vorgang überrascht. Sie starrte Weißblut an, wobei das Hinterteil noch dem verschwundenen Männchen entgegengereckt war.
Die Männchen hatten einen Kreis gebildet. Die pelzigen Rücken wirkten wie eine Wand. Streuner sah, wie Weißblut Knäuel wiegte, fast als ob er sie säugen wollte. Das Baby zappelte mit den Beinchen und schaute gurgelnd zu Weißblut auf. Dann legte Weißblut ihr die Hand auf den Kopf.
Plötzlich begriff Fleck. Sie heulte auf und machte einen Satz.
Aber die Brüder stellten sich ihr entgegen. Jedes dieser halbwüchsigen Männchen war größer als sie. Obwohl sie Bedenken hatten, sich einem ranghohen Weibchen gegenüber feindselig zu verhalten, wehrten sie sie mit Klapsen und Schreien leicht ab.
Weißblut schloss die Hand. Streuner hörte das Knacken von Knochen – ein Geräusch, als ob ein Dickbauch in ein knackiges Blatt bisse. Das Baby zuckte konvulsivisch und erschlaffte. Weißblut schaute für einen Moment auf den kleinen Körper und betrachtete das im Todeskampf verzerrte olivfarbene Gesicht mit einem wechselnden Gefühlsausdruck. Und dann fielen die Männchen über den winzigen Körper her. Ein Biss ins Genick, sodass der Kopf fast abgetrennt wurde; Weißblut zerrte an den Gliedmaßen, bis Knorpel rissen und Knochen knackten. Aber es war gar nicht einmal das Fleisch, auf das die Männchen es abgesehen hatten, sondern das Blut, das aus dem aufgerissenen Hals des Kinds floss. Sie tranken gierig die warme Flüssigkeit, bis Münder und Zähne sich hellrot gefärbt hatten.
Fleck heulte, warf sich in Drohpositur, tobte auf dem Floß herum, wobei sie an Ästen und Blättern zerrte, und schlug die Männchen auf den Rücken. Das Floß erzitterte und schwankte, sodass Streuner sich ängstlich an den Ast klammerte. Aber es war nicht mehr zu ändern.
Weißblut hatte ihr im Grunde auch nichts vorgemacht. Genauso wenig wie sein Altvorderer Noth vermochte er sich in andere hineinzuversetzen und war deshalb auch nicht in der Lage, falsche Maximen in ihre Köpfe zu pflanzen – jedenfalls nicht wirklich. Die Anthros hatten jedoch eine hohe soziale Intelligenz und verfügten über eine gute Problemlösungs-Kompetenz, wenn sie neuen Herausforderungen gegenüberstanden. Weißblut, der auf seine Art ein Genie war, hatte diese Facetten zu kombinieren und einen Plan zu entwickeln vermocht, Knäuel seiner Mutter erfolgreich zu entwenden.
Mit einem letzten heiseren Schrei warf Fleck sich gegen den Mangobaum und baute sich aus abgebrochenen Ästen eine Art Nest. Und noch immer labten die Männchen sich an ihrer Beute, begleitet von lautem Schmatzen und dem Knacken der Knochen zwischen den Zähnen.
Streuner, deren Kopf vom Gestank des Bluts erfüllt war, ging zum Rand des Floßes, wo tote Äste wie Finger im Wasser trieben.
Das trübe Meerwasser war wie eine dünne Suppe und voller Leben. Die oberen, von der Sonne durchdrungenen Schichten waren mit Algenplankton angereichert, einer kompakten mikroskopischen Ökologie. Das Plankton war wie ein Wald im Meer, wobei dieser Wald jedoch seines Überbaus aus Blättern, Zweigen, Ästen und Baumstämmen entkleidet war und nur noch die winzigen chlorophyllhaltigen Zellen der Baumkronen übrig waren, die in der reichen Nährlösung schwammen. Obwohl sich die ökologische Struktur des Planktons in einer halben Milliarde Jahren nicht verändert hatte, waren die Spezies in ihm gekommen und gegangen und der Variation und Auslöschung zum Opfer gefallen wie andere auch; genauso wie an Land wurden in diesem Wasserreich Spiele über viele Runden ausgetragen, wobei die Akteure immer wieder ausgewechselt wurden.
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