Danach wurde es noch schlimmer für sie. Während das leise knarrende Floß über die Weiten des Ozeans driftete und diese kleinen Kreaturen ihre letzten Reserven aufzehrten, konnte es nur schlimmer werden.
Streuners Gliedmaßen waren angeschwollen. Die gespannte Haut schmerzte ständig und riss schnell. Die Zunge quoll ihr aus dem Mund, als ob man ihr einen großen Klumpen Dung hineingestopft hätte. Die Augenlider waren aufgeplatzt, und sie hatte das Gefühl zu weinen; als sie aber das Fell berührte, sah sie, dass es Blut war, das aus den Augen tropfte.
Sie wurde bei lebendigem Leib mumifiziert.
Und eines Morgens hörte sie schließlich einen Schrei, hoch und leise wie der eines Vogels.
Sie schob das Laub weg, mit dem sie sich zugedeckt hatte, und setzte sich aufrecht hin. Die Welt wurde gelb, und sie hatte ein seltsames Klingeln im Ohr. Sie sah kaum noch etwas; das Blickfeld war verschwommen, und als sie blinzelte, verschaffte das den Augen keine Erleichterung. Der Körper vermochte keine Feuchtigkeit mehr abzugeben.
Trotzdem erkannte sie, dass zwei Anthros – Fleck und Brille – nebeneinander über einer dunklen zusammen gekrümmten Gestalt saßen. Vielleicht war es etwas zu essen. Unter Schmerzen kroch sie zu ihnen hinüber.
Es war Linkshänder, der mit gespreizten Gliedern flach am Boden lag.
Die sengende Sonnenhitze hatte ihm den Garaus gemacht. Das weiße Fell am Kopf und im Nacken war fast völlig verschwunden. Das Fleisch war an den Knochen verschmort. Streuner sah die Konturen des Schädels, der filigranen Handknochen, der Füße und des Beckens. Die nackte Haut hatte sich purpurn und grau verfärbt und war mit großen Blasen und Streifen überzogen. Die Lippen waren zu dünnen Strichen aus schwarzem Gewebe geschrumpft, sodass die Zähne und der rissige Gaumen zu sehen waren. Der Rest des Gesichts war ebenfalls schwarz und vertrocknet, als ob es verbrannt wäre. Das Fleisch um die Nase war verschrumpelt, sodass die kleinen, seitwärts gerichteten Nasenlöcher gedehnt wurden und die schwarze Innenseite der Nase nach außen gestülpt wurde. Die Lider waren auch geschrumpft, wodurch die Augen unablässig in die Sonne starrten. Die Bindehaut, die die Augen umspannte, hatte sich pechschwarz verfärbt. Bei der vergeblichen Suche nach Nahrung hatte er an der Rinde gekratzt und Hände und Füße aufgeschnitten. Aber es war kein Blut zu sehen; die Schnitte waren wie Kratzer in gegerbtem Leder.
Aber er war noch bei Bewusstsein und stieß raue, leise Schreie aus. Dann drehte er leicht den Kopf und spreizte die Finger der kräftigeren linken Hand.
Ohne Nahrung und im Bestreben, die lebenswichtigen Systeme so lang wie möglich am Laufen zu halten, hatte Linkshänders Körper sich selbst verzehrt. Als das Fett aufgebraucht war, wurden die Muskeln angegriffen. Dadurch waren wiederum die inneren Organe beschädigt worden, die schließlich den Dienst einstellten.
Doch in diesen letzten Momenten verspürte Linkshänder keinen Schmerz. Sogar das Hunger- und Durstgefühl war verschwunden.
Streuner schaute benommen und verwirrt zu. Es war, als ob sie ein lebendiges Skelett betrachtete.
Schließlich verstummten Linkshänders unheimliche Rufe. Die ausgestreckten Finger erstarrten in dieser finalen Geste.
Der geschrumpfte Magen rumorte, und ein letzter Rülpser entwich dem leblosen Mund.
Streuner schaute die anderen trübe an. Sie waren selbst nur noch Haut und Knochen, nicht viel besser dran als Linkshänder und kaum noch als Anthros zu erkennen. Sie unternahmen keine Anstrengungen mehr, sich zu kämmen oder überhaupt einen Kontakt herzustellen. Es war, als ob die Sonne alles ausgebrannt hätte, was sie zu Anthros machte und sie aller Errungenschaften beraubt hätte, die sie in dreißig Millionen Jahren der Evolution mühsam erworben hatten.
Streuner wandte sich ab und humpelte unter Schmerzen in die Deckung ihres Nests zurück.
Sie lag reglos da und bewegte sich nur, um den Schmerz der schwärenden Wunden zu lindern. Ihr Bewusstsein schien leer, bar jeder Neugierde. Sie existierte nur noch in einem reptilienartigen Dämmerzustand. Sie stopfte sich den Mund mit Rinde und trockenem Laub voll, aber die tote Materie kratzte nur am Gaumen.
Und sie dachte ständig an Linkshänders Leiche.
Sie stand langsam auf und ging zu Linkshänders Körper. Die Brust war gespalten – durch das Austrocknen der Haut hatte sich nach dem Tod eine Wunde geöffnet. Aber der Gestank war seltsamerweise gar nicht so schlimm. In dieser Wasserwüste lief der Verwesungsprozess, der Linkshänders Leiche im Wald schnell zersetzt hätte, nur sehr langsam ab. Die Mumifizierung, die schon zu Lebzeiten eingesetzt hatte, ging weiter.
Vorsichtig schob sie die Hand in die Wunde und berührte fast schon trockene Rippen. Sie zupfte am Brustfleisch. Es ließ sich leicht abziehen und brachte den Brustkorb zum Vorschein.
Es war kaum noch Muskelgewebe am Körper vorhanden. Auch kein Fett, nur Spuren einer durchscheinenden, klebrigen Substanz. Sie sah die Organe in Linkshänders Bauchhöhle: Herz, Leber und Nieren. Sie waren geschrumpft und sahen aus wie harte schwarze Früchte.
Ja, wie Früchte.
Streuner stieß die Hand in den Brustkorb. Er splitterte mit einem Knacken und brachte die fleischigen Früchte ans Licht.
Sie schloss die Hand um das schwarz verfärbte Herz. Es löste sich mit einem leisen Reißen.
Sie holte das Herz heraus und biss hinein, als sei es nicht exotischer als eine seltene Mangofrucht. Das Fleisch war mager, faserig und widersetzte sich den Zähnen, die nur noch lose im Kiefer steckten. Doch dann schlug sie die Zähne in das Organ und wurde mit etwas Flüssigkeit belohnt – Herzblut, das noch nicht eingetrocknet war.
Anstatt den Hunger zu lindern, war das Fleisch jedoch ein Appetithappen, der Streuners atavistische Fresslust erst richtig entfachte. Die Speichelbildung setzte wieder ein, und es wurden Verdauungssäfte in den schmerzenden Magen gepumpt. Sie erbrach die ersten Bissen ins Meer, ließ sich aber nicht irritieren und aß solang weiter, bis sie das feste, faserige Fleisch bei sich behielt.
Linkshänders milchig-weiße, trübe Augen starrten noch immer blicklos in die Sonne, die ihn umgebracht hatte, und die Finger der linken Hand waren noch immer ausgestreckt.
Fleck hatte sich wieder geregt und lief vorsichtig auf Streuner zu. Ihre Haut war ein straffer Überzug, an dem nur noch ein paar Büschel des einst so schönen schwarzen Fells klebten. Neugierig wühlte sie in Linkshänders offener Brust und holte die Leber heraus, die sie hastig verschlang.
Brille hatte sich in der Zwischenzeit nicht bewegt. Er nahm keinen Anteil am Schicksal seines Bruders und lag mit gespreizten Gliedmaßen auf der Seite. Er schien wie tot, aber Streuner erkannte eine unmerkliche Bewegung. Seine Brust hob und senkte sich langsam wie das Wogen des Meers: Er investierte die letzte Kraft in die Atmung.
Streuner ließ sich nun vom Instinkt leiten. Fleck war von Weißblut geschwängert worden, aber vielleicht hatte ihr Körper den Fötus auch zerstört und ihn genauso wie die Muskeln und das Fett verzehrt, um die Funktionsfähigkeit des Organismus aufrechtzuerhalten. Zwei Weibchen allein hatten keine Perspektive außer dem Tod. Also musste Brille, das letzte Männchen, am Leben erhalten werden.
Streuner kehrte zur Leiche zurück und entnahm ihm eine Niere, auch so ein schwarzes, verschrumpeltes Stück Fleisch.
Sie trug die Niere zu Brille und steckte sie ihm in den Mund. Schließlich regte er sich. Mit einer Bewegung so schwach wie die eines Kinds nahm er den Fleischklumpen und nagte ihn langsam an.
Dabei machte die Nahrung sie umso hungriger, weil ihr das Fett fehlte, das für die richtige Verdauung notwendig gewesen wäre. Dennoch kehrten die drei Überlebenden immer wieder zur Leiche zurück, räumten die Bauchhöhle aus und nagten das Fleisch von Gliedmaßen, Rippen, Becken und Rücken ab. Schließlich waren nur noch verstreute Knochen übrig – Knochen und ein Schädel mit Augäpfeln, die noch immer in die Sonne starrten.
Читать дальше