Selbst in dieser Entfernung schauderte Graben in der Deckung des Farns.
Plötzlich raste eine kompakte gefiederte Gestalt über die Ebene der Tundra heran. Die durcheinander wuselnden Höhlenbauer stoben panisch auseinander, und Graben kauerte sich zusammen. Der Neuankömmling lief aufrecht auf langen, kräftigen Beinen. Die Hände, die vor dem Hintergrund des dichten weißen Gefieders kaum zu sehen waren, waren mit messerscharfen Klauen besetzt. Diese Kreatur rannte nun ins Wasser und schwamm zu der Eisscholle hinaus, wo sie sich mit der Amphibie um Brocken des Kadavers stritt, wie in späteren Zeiten Polarfüchse versuchten, Eisbären ihre Beute streitig zu machen.
Der weißgefiederte Räuber sah aus wie ein flügelloser Vogel. Der er aber nicht war. Er war ein Abkömmling der Velociraptoren aus der Kreidezeit.
Auf Antarktika gab es fünfzig Millionen Jahre nach dem Kometeneinschlag noch immer Dinosaurier.
Graben wandte sich von der blutigen Szene an der Küste ab und ging landeinwärts. Sie bewegte sich vorsichtig und blieb immer in Deckung. Hier und da sah sie weiße Federn, die der Raptor verloren hatte, als er zum Kadaver auf dem Eis gerannt war.
Schließlich erklomm sie die letzte Düne und schaute über die Landschaft.
Sie war eine große grün-braune Ebene, die hier und da vom Blau von Wasser durchsetzt war. Das Gras war noch immer dick, obwohl es sich schon zurückzog, und wo es noch nicht ganz verschwunden war, hatte es sich goldbraun verfärbt. Die meisten Blumen waren verblüht, weil es keine Insekten mehr gab, die sie anzulocken vermochten; an manchen Stellen hielten sich aber noch leuchtende, schöne Blumen wie Steinbrech. Um die schimmernden Süßwasserteiche versammelten sich Tiere zum Trinken. Aber die Teiche waren auch schon mit grauem Eis bedeckt.
Es war eine typische Tundra-Szene – ein Ausschnitt aus einem Landschaftsgürtel, der noch immer den Kontinent umspannte.
Und durch diese Tundra marschierten Dinosaurier.
Ein paar Kilometer im Südwesten erblickte Graben etwas, das wie eine dunkle Wolke aussah, die über den Boden zog. Es war eine Herde Muttas. Ihr Atem hing als Dampfwolken in der kühlen Luft. Sie waren Dinosaurier, große Pflanzenfresser. Aus der Ferne muteten sie wie Mammuts ohne Stoßzähne an. Aus der Nähe traten jedoch ihre klassischen Dinosaurier-Merkmale zutage: Die Hinterbeine waren kräftiger als die Vorderläufe, sie hatten dicke Schwänze, mit denen sie das Gleichgewicht hielten, und sie legten ein seltsam rastloses und nervöses Verhalten an den Tag, das eher an Vögel als an Säugetiere erinnerte – und manchmal stellten sie sich auch auf die Hinterbeine und bellten mit der Wildheit eines Tyrannosaurus.
Die Muttas stammten vom Muttaburrasaurus ab, stämmigen Pflanzenfressern aus dem Jura, die sich seinerzeit von Zikaden, Farnen und Koniferen ernährt hatten. Als die Kälte sich über Antarktika gelegt hatte, hatten die Muttas gelernt, von der kargen Vegetation der Tundra zu leben. Ihre Leiber waren kompakt und rund geworden und sie hatten sich einen dicken Mantel aus mehreren Lagen dunkelbrauner schuppiger Federn zugelegt. Mit der Zeit hatten sie sich in große Pflanzenfresser verwandelt, die in der Tundra umherwanderten: eine Rolle, die später und anderswo von Tieren wie Karibus, Moschusochsen und Mammuts übernommen wurde. Das traurige Trompeten, das sie mit aufblasbaren Hautsäcken auf den großen hornigen Schnauzen produzierten, hallte von den Eiswänden im Süden wider.
Einst waren die Muttas über den ganzen Kontinent gewandert und hatten den kurzen, aber üppigen Sommer ausgenutzt. Das vorrückende Eis hatte die Muttas jedoch dezimiert, und die restlichen Herden wanderten irgendwie verloren über den immer schmaleren Tundrastreifen zwischen Eis und Meer.
Diese Mutta-Herde wurde von einem einsamen Jäger verfolgt.
Stocksteif inspizierte der Zwerg-Allosaurier die Mutta-Herde. Er sah aus wie eine goldene gefiederte Statue. Der Allo war ein geschrumpftes Überbleibsel einer Familie von Tieren, die andernorts längst ausgestorben waren – er stammte in direkter Linie vom Jura-Löwen ab, der Stego getötet hatte. Die Herde hatte den Allos aber schon bemerkt und blieb dicht zusammen; die Jungen hatten sie in die Mitte genommen. Die Bewegungen des Allos waren träge, als ob er unter Drogen stünde. Er hatte eine erfolgreiche Jagdsaison hinter sich, und der Stoffwechsel schaltete mit dem eingelagerten Fett in der zunehmenden Kälte schon auf Sparflamme. Bald würde der Allo in der Art von Eisbären eine Winterhöhle in den Schnee graben.
Allo-Weibchen legten die Eier gegen Ende des Winters und brüteten sie in der Sicherheit des Schnees aus. Die Säugetiere von Antarktika freuten sich aber schon auf den Frühling, weil die Aussicht bestand, dass plötzlich eine Schar gefräßiger Allosaurier-Babys aus dem Schnee sprang und sich bei der Verfolgung ihrer ersten Mahlzeit selbst in die Haare geriet.
Plötzlich machte sich unter den Höhlengräbern Unruhe breit. Die kalte Brise von der Eiskappe trug einen intensiven Fleischgeruch heran. Eier.
Sie rannte so schnell sie konnte durch die Farne und das hohe Gras, ohne sich Gedanken um ihre Sicherheit zu machen.
Das Nest enthielt Dinosaurier-Eier: die Eier eines Mutta. Das war aber ein ungewöhnlicher Fund für diese Jahreszeit und noch dazu so weit von den Brutstätten der Muttas entfernt. Vielleicht waren diese Eier von einer kranken oder verletzten Mutter abgelegt worden. Es waren bereits Höhlengräber am Werk, und in der durcheinander wimmelnden Masse tummelten sich auch ein paar größere Steropodons: Die plumpen, schwarzhaarigen und irgendwie unfertig anmutenden Kreaturen stammten von Säugetieren ab, die den südlichen Kontinent seit dem Jura bevölkert hatten.
Graben gelang es, sich einen Weg ins Nest zu bahnen, ehe es völlig zerstört war. Bald waren Gesicht und Hände mit klebrigem Dotter verschmiert. Aber die Konkurrenz um die Eier geriet schnell zu einer heftigen Schlacht. Es gab in diesem Herbst Unmengen von Höhlengräbern in der Tundra, viel mehr als im letzten Jahr. Und Graben war intelligent genug, um diese Masse der Höhlengräber auf einer tiefen Ebene als zutiefst beunruhigend zu empfinden.
Es gab mehrere Ursachen für eine so starke Vermehrung. Die Höhlenbauer waren Teil eines komplexen ökologischen Kreislaufs der üppigen Natur, den Insekten, die von ihr lebten und den Fleischfressern, die sich wiederum von Insekten ernährten. In solchen Zeiten der Übervölkerung schwärmten Höhlengräber vom Instinkt getrieben über das grüne Land aus, um in leeren Gebieten neue Höhlen zu graben. Viele von ihnen fielen Räubern zum Opfer, aber das war der Lauf der Dinge – es überlebten immer noch genug.
Jedenfalls war das bisher immer so abgelaufen. Wo das Eis jedoch vorrückte und die Tundra schrumpfte, gab es keine Rückzugsmöglichkeiten mehr als in die ohnehin schon übervölkerten Gebiete. Deshalb wurden derartige Ansammlungen und Kämpfe zum Dauerzustand.
Das war natürlich schlecht für das Mutta, das diese Eier gelegt hatte. Die Muttas hatten die Eier auf dem Erdboden ausgebrütet, wie ihre Vorfahren es schon getan hatten. Jedoch wurden sie dadurch verwundbar für Räuber wie die Höhlengräber. Die Hauptursache für den Niedergang der Muttas war die zunehmende Konkurrenz um das Protein, das in ihren Eiern enthalten war. Große Pflanzen fressende Säugetiere wie Mammuts und Karibus hätten bessere Chancen gehabt, weil ihre Jungen in dieser entscheidenden Phase ihres Lebens sicherer waren. Aber die Muttas, die wie die anderen hier gestrandet waren, nachdem Antarktika von den anderen Kontinenten weggedriftet war, hatten in dieser Hinsicht keine Wahl.
Plötzlich stieß eine Klaue vom Himmel herab. Mit einem in über zweihundert Millionen Jahren geschärften Instinkt presste Graben sich an den Boden, während die Höhlengräber quiekend durcheinander liefen.
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