Trotz aller Kälteanpassungen war Graben aber immer noch ein Primat. Sie hatte noch die beweglichen Hände und starken Unterarme ihrer Vorfahren. Und obwohl sie ein viel kleineres Gehirn hatte als ihre Ahnen – in dieser kargen Landschaft war ein großes Gehirn ein teurer Luxus, und die Tiere waren nicht klüger als unbedingt notwendig –, war sie intelligenter als jeder Lemming.
Aber das Klima wurde immer kälter. Und jedes Jahr wurden die restlichen Tiere und Pflanzen in einem immer schmaleren Tundra-Streifen an der Küste zusammengedrängt.
Das Endspiel stand bevor.
Graben rang nach Luft.
In plötzlicher Panik scharrte sie im Schnee über sich und grub sich mit Händen, die eigentlich für das Erklimmen von Bäumen geschaffen waren, durch ein Dach aus Schnee.
Schließlich schob sie sich aus der Höhle in grelles Frühlingslicht. Ein Schwall miefiger Luft entwich hinter ihr und waberte in der Kälte – muffig und mit dem Geruch des Todes geschwängert.
Sie war ein zum Skelett abgemagertes Bündel mit Urin befleckter Haut und Fell in einer weiten unberührten Schneelandschaft. Die Sonne stand so hoch überm Horizont, um wie eine gelbe Laterne an einem purpur-blauen Himmel zu hängen. Der Frühling war also schon weit fortgeschritten. Aber nichts regte sich: keine Vögel, keine Raptoren und es brachen auch keine Allo-Babys aus den Winterhöhlen. Kein anderer Höhlengräber erschien im Schnee; kein einziger Artgenosse folgte ihr.
Sie arbeitete sich die Schneebank hinunter. Sie bewegte sich steif, denn die Gelenke schmerzten. Und sie hatte einen Heißhunger und eine völlig ausgedörrte Kehle. Durch den langen Winterschlaf hatte sie ungefähr ein Viertel der Körpermasse verloren. Und sie zitterte.
Das Zittern kündigte das Versagen der körpereigenen Kälteschutz-Systeme an. Es war die letzte Option, durch Muskelbewegungen Körperwärme zu erzeugen – und sie war auch extrem energieaufwändig. Das Zittern hätte eigentlich nicht sein dürfen.
Etwas stimmte nicht.
Sie erreichte den nackten Erdboden, der das Meer säumte. Der Boden war noch steinhart gefroren. Und trotz der fortgeschrittenen Jahreszeit wuchs hier noch nichts; Sporen und Samen schlummerten noch immer unter der Erde.
Sie stieß auf eine Gruppe Leaellynasaurae. In der Kälte hatten sie die Glieder und Hälse ineinander verschlungen, sodass sie eine Art gefiederte Skulptur bildeten. Instinktiv presste sie sich in den Schnee.
Aber von den Leaellynasaurae ging keine Gefahr aus. Sie waren tot, in der finalen Umarmung erstarrt. Wenn Graben an ihnen gerührt hätte, wäre das Ensemble umgekippt und die gefrorenen Federn wären abgebrochen wie Eiszapfen.
Sie eilte weiter und überließ die Leaellynasaurae dem Todesschlaf.
Sie erreichte eine kleine Landzunge, von der aus man das Meer überblickte. An dieser Stelle hatte sie schon am Ende des letzten Sommers gestanden und aus der Deckung eines kleinen Farndickichts den Kampf zwischen einem Raptor und einem Frosch beobachtet. Doch nun waren selbst die Sporen des Farns im kahlen Boden eingeschlossen, und es gab nichts zu essen. Vor ihr erstreckte sich das Meer als eine nahtlose weiße Fläche bis zum Horizont. Sie verzagte angesichts der leblosen Geometrie: ein messerscharfer Horizont vor ihr, eine weiße Fläche unter ihr, eine leere blaue Kuppel über ihr.
Nur an der Küste wurde die Eintönigkeit aufgelockert. Hier hatte die anbrandende See das Eis gebrochen, und hier tummelte sich sogar jetzt noch Leben. Graben sah kleine Krustentiere durch die Wasseroberfläche brechen und sich am Plankton laben. Und Quallen, groß und klein, pulsierten in dieser Einöde – durchscheinende, ätherische und zarte Geschöpfe, die in der Dünung des Meeres schwebten.
Selbst hier, an den Extremen der Erde, wimmelte das Meer von Leben, wie es seit Urzeiten gewesen war. Aber es war nichts für Graben dabei.
In dem Maß, wie die globale Abkühlung andauerte, wurde die Umklammerung des Eises mit jedem Jahr stärker. Die einmalige Ökologie aus Tieren und Pflanzen, die auf diesem riesigen isolierten Floß gefangen war, hatte keine Ausweichmöglichkeiten. Und die Evolution vermochte den letztendlichen Sieg des Eises nicht aufzuhalten.
Es war ein grausames Auslöschungs-Ereignis, das vor den Blicken der Welt verborgen hier über Millionen Jahre sich hinzog. Eine komplette Biozönose starb den Kältetod. Nachdem die Tiere und Pflanzen alle verschwunden waren, dehnte die gewaltige Eiskappe im Herzen des Kontinents sich immer weiter aus und schickte Gletscher aus, die sich einen Weg durchs Gestein frästen, bis die leblose Abstraktion des Eises das Meer traf. Obwohl die tief begrabenen Fossilien und Kohlenflöze der Urzeit überdauern würden, blieb keine Spur zurück, aus der man auf die Existenz von Grabens Tundra-Welt und die einzigartigen Lebensformen, die sie bevölkert hatten, zu schließen vermocht hätte.
Mutlos wandte sie sich ab und lief auf der Suche nach Nahrung über den gefrorenen Boden.
KAPITEL 8
Bruchstücke
Nordafrikanische Küste, vor ca. 5 Millionen Jahren
Im ersten Licht der Morgenröte wachte Capo in seinem Nest in der Baumkrone auf. Er gähnte herzhaft, wobei die dicken Gaumenzäpfchen zutage traten, und streckte die langen pelzigen Glieder. Dann nahm er die Hoden in die Hand und kratzte sie genüsslich.
Capo hatte gewisse Ähnlichkeit mit einem Schimpansen – aber es gab noch keine Schimpansen auf der Welt. Aber er war immerhin schon ein Menschenaffe. In den langen Jahren seit Streuners Tod hatten die aufblühenden Primaten-Familien sich diversifiziert, und Capos Linie hatte sich vor ungefähr zwanzig Millionen Jahren von den Affen abgespalten. Und doch hatten fünf Millionen Jahre vor dem Aufstieg der Menschen die Menschenaffen ihre beste Zeit schon hinter sich.
Capo schielte in den Himmel. Er war graublau und wolkenlos. Es würde wieder ein langer, heißer und sonniger Tag werden.
Und ein guter Tag. Er rieb sich nachdenklich den Penis. Er hatte die allmorgendliche stramme Erektion. Ein paar der aufmüpfigsten rangniederen Männchen waren vor wenigen Tagen in der Tiefe des Waldes verschwunden. Es dürfte Wochen dauern, bis sie wiederkamen; Wochen relativer Ruhe und Ordnung. Capo hätte also leichtes Spiel.
In der morgendlichen Stille trugen Rufe weit. Wie er so in Gedanken versunken lag, hörte er ein entferntes Brüllen wie das Grollen eines riesigen verwundeten Tiers. Es kam aus westlicher Richtung. Er lauschte für eine Weile, und ihm sträubten sich die Haare bei der Majestät des nicht enden wollenden, verwirrenden Donnerhalls. Der Laut kündete von enormer Macht. Aber der Verursacher war nicht präsent und nicht zu sehen. Der Laut war sein Leben lang im Hintergrund gewesen, unveränderlich und unbegreiflich – und weit genug entfernt, um ihn nicht zu kümmern.
Er verspürte ein nagendes Unbehagen, aber nicht etwa wegen des Geräuschs. Es war vielmehr eine vage Besorgnis, die ihn in solchen nachdenklichen Momenten überkam.
Capo war über vierzig Jahre alt. Am Körper trug er die Narben vieler Kämpfe und kahle Stellen von der endlosen Fellpflege. Er war alt genug und intelligent genug, um sich an viele Jahreszeiten zu erinnern, aber nicht etwa in einer linearen Abfolge, sondern in Streiflichtern und Splittern – wie lebendige Szenen, die man aus einem Film herausgeschnitten und zufällig aneinandergereiht hatte. Und auf einer tiefen Ebene wusste er, dass die Welt nicht mehr so war, wie sie in der Vergangenheit gewesen war. Die Dinge änderten sich, und nicht unbedingt zum Besseren.
Aber er vermochte daran nichts zu ändern.
Träge rollte er sich auf den Bauch. Das Nest war nur ein Gewirr aus dünnen geflochtenen Ästen, die durch sein Gewicht fixiert wurden. Durch die Lücken erkannte er die im Baum verstreute Sippe. Die Primaten nisteten wie Vögel. Mit einem leisen Grunzen entleerte er die Blase. Der Urin schoss gießkannenartig aus dem noch halb erigierten Penis und regnete auf den Baum hinab.
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