Auf dem Höhepunkt ihrer Entwicklung gab es über sechzig Menschenaffen-Spezies. Was ihre Körpergröße betraf, hatten sie zwischen einer Katze und einem jungen Elefanten rangiert. Die größten, wie die Riesen, waren Laubesser, die mittelgroßen – wie Capo – lebten von Früchten, und die kleinsten unter einem Kilo oder so waren wie ihre entfernten Vorfahren Insektenfresser: Je kleiner das Tier, desto schneller ist sein Stoffwechsel und desto höhere Ansprüche stellt es an die Qualität der Nahrung. Aber es gab Platz für alle. Es war ein Zeitalter der Menschenaffen gewesen, ein mächtiges anthropoides Reich.
Leider hatte es nicht allzu lang Bestand.
Durch die anhaltende Abkühlung und Austrocknung der Erde waren die einst breiten Waldgürtel zu isolierten Inseln geschrumpft. Durch die gekappten Wald-Verbindungen zwischen Afrika und Eurasien waren die asiatischen Menschenaffen-Populationen isoliert worden. Sie würden sich unabhängig von den Ereignissen in Afrika zum Orang-Utan und seinen Verwandten entwickeln. Die geschrumpften Lebensräume hatten eine Abnahme der Populationen bedingt. Die meisten Menschenaffen-Spezies waren bereits ausgestorben.
Und dann war ein neuer Konkurrent auf den Plan getreten.
Capo gelangte zum Blätterdickicht einer Akazie, von der er wusste, dass sie besonders eifrig Blüten trieb. Jedoch stellte er fest, dass die Äste bereits geplündert waren. Er schob sie auseinander und schaute in ein kleines, erschrockenes schwarzes Gesicht mit einem weißen Fellrand und einem grauen Wuschel auf dem Kopf. Es war ein Affe – wie eine Meerkatze –, dem Saft aus dem Mund tropfte. Er schaute Capo an, kreischte und verschwand blitzartig, ehe Capo zu reagieren vermochte.
Er ruhte sich für eine Weile aus und kratzte sich nachdenklich an der Backe.
Affen waren eine Plage. Ihr großer Vorteil war nämlich, dass sie unreife Früchte zu fressen vermochten. Ihr Körper produzierte ein Enzym, das die giftigen Chemikalien neutralisierte, mit denen die Bäume die Früchte schützten, bis die Samen keimfähig waren. Die Menschenaffen hatten dem nichts entgegenzusetzen. Daher waren die Affen in der Lage, die Bäume schon vor der Ankunft der Menschenaffen leer zu machen. Sie schwärmten sogar ins Grasland aus und ernährten sich von den nussartigen Samen, die es dort gab. Für die Menschenaffen waren die Affen eine genauso harte Konkurrenz, wie die Nagetiere immer gewesen waren.
Hoch über Capos Kopf bewegte sich eine schlanke Gestalt elegant von Ast zu Ast. Es war ein Gibbon. Er schwang sich durch die Baumwipfel und nutzte den Körper als Pendel, um kinetische Energie zu speichern. Dazu pendelte er wie ein Kind auf der Schaukel mit den Beinen, um die Geschwindigkeit zu erhöhen.
Der Körper des Gibbons war eine Art Sonderausführung des ›Langarm-Flachbrust‹-Designs der Menschenaffen. Die Kugelgelenke von Schulter und Handgelenk hatten einen so hohen Freiheitsgrad, dass der Gibbon an den Armen hängend den Körper im Vollkreis zu drehen imstande war. Mit dem geringen Gewicht und der extremen Beweglichkeit vermochte der Gibbon an den äußersten Ästen der höchsten Bäume zu hängen und die Früchte zu erreichen, die sich an den dünnsten Zweigen befanden – und war zugleich vor den Räubern sicher, die auf Bäume kletterten. Durch die Fähigkeit, kopfüber von den Ästen zu hängen, gelangte der Gibbon sogar an Leckereien außerhalb der Reichweite von Menschenaffen, die zu schwer waren, um in solche Höhen zu klettern – und die sogar dem Zugriff der Affen entzogen waren, die nämlich nur auf den Ästen entlangliefen.
Capo schaute zum Gibbon empor. Er beneidete ihn um die Eleganz, Geschwindigkeit und Körperbeherrschung, die er nie erlangen würde. Doch so großartig der Gibbon auch war – er war nicht etwa die Krone der Menschenaffen, sondern ein ›Auslaufmodell‹, das den Konkurrenzkampf mit den Affen verloren hatte und dazu verurteilt war, sein Dasein in ökologischen Nischen zu fristen.
Enttäuscht und hungrig ging Capo weiter.
Schließlich stieß Capo auf eine andere Quelle seiner Leibspeisen, eine Gruppe Ölpalmen. Die Nüsse dieser Bäume hatten ein nahrhaftes, öliges Fleisch, das allerdings von einer besonders harten Schale umschlossen wurde. Damit war es dem Zugriff der meisten Tiere entzogen, sogar für die geschickten Finger der Affen. Nicht aber für Menschenaffen.
Capo ließ ein paar Dutzend Nüsse auf den Boden fallen, dann stieg er hinab. Er sammelte die Nüsse ein, trug sie zu einer ganz bestimmten Akazie und versteckte sie unter einem Haufen getrockneter Palmwedel.
Dann arbeitete er sich zum Waldrand vor, wo er seine Hammer-Steine gelagert hatte. Dabei handelte es sich um Kieselsteine, die formschlüssig in der Hand lagen. Er suchte sich einen aus und ging zum Nuss-Depot zurück.
Auf dem Rückweg kam er an der halbwüchsigen Heulen vorbei. Er spielte kurz mit dem Gedanken, sich wieder mit ihr zu paaren, doch wenn Capo sich einmal am Tag einem Weibchen widmete, war das Gunstbeweis genug.
Zumal ein Kind bei ihr war, ein merkwürdig aussehendes Männchen mit einer auffallend verlängerten Unterlippe: Elefant. Er war einer von Capos Söhnen. Er saß auf dem Boden und hielt sich laut stöhnend den Bauch. Vielleicht hatte er einen Wurm oder einen anderen Parasiten. Heulen stöhnte mit ihm, als ob der Schmerz sich auch auf ihren Körper übertragen hätte. Sie riss schnell Blätter ab und veranlasste das Junge, sie zu schlucken; das Laub enthielt Substanzen, die Parasiten austrieben.
Und dann erblickte er Finger und Wedel, die über den Waldboden schlichen. Capo hatte den Eindruck, dass die jungen Männchen etwas im Schilde führten. Und dann wurde er sich zornig bewusst, dass sie es auf seinen Laubhaufen abgesehen hatten.
Capo zügelte seine Ungeduld. Er setzte sich unter einen Baum, ließ den Hammer-Stein fallen und säuberte methodisch die Zwischenräume zwischen den Zehen. Er wusste, wenn er die Palmnüsse zu erreichen versuchte, würden die anderen eher da sein und sie klauen. Indem er sich nun mit seinen Füßen beschäftigte, machte er Wedel und Finger glauben, dass dort gar keine Nüsse versteckt seien.
Anders als Streuner vermochte Capo die Absichten von anderen zu erkennen. Und Capo wusste auch, dass seine Artgenossen wahrscheinlich andere Prämissen hatten als er und dass er mit seinen Handlungen die Prämissen anderer zu ändern vermochte. Es war eine Fähigkeit, die sogar ein begrenztes Maß an Empathie ermöglichte: Heulen hatte das Leid von Elefant wirklich geteilt. Aber sie ermöglichte auch raffinierte Methoden der Täuschung und des Verrats. Er war in gewisser Weise imstande, Gedanken zu lesen.
Diese neue Fähigkeit hatte ihn auf einer höheren Ebene selbstbewusst gemacht. Die beste Methode, die Gedanken eines anderen zu ergründen bestand darin, die eigenen Gedanken zu studieren: Wenn ich sähe, was sie sieht, und wenn ich glaubte, was sie tut, was würde ich tun…? Es war eine Innenansicht, eine Reflexion: die Geburt des Bewusstseins. Wenn Capo sein Gesicht im Spiegel gesehen hätte, dann hätte er gewusst, dass er selbst das war und nicht etwa ein Artgenosse in einem Fenster. Seine Art waren die ersten Tiere seit den Jägern von Pangäa, die dieses Intelligenzniveau erreicht hatte.
Schließlich entfernten Wedel und Finger sich von dem Blätterhaufen. Capo schnappte sich den Hammer-Stein, um die Palmnüsse zu knacken. Er würde den beiden später noch eine Tracht Prügel verabreichen – aus Prinzip. Sie würden nie verstehen, weshalb sie die Haue eigentlich bezogen.
Er schob das Laub beiseite, unter dem sein Lieblings-›Amboss‹ versteckt war: ein flacher, im Boden versenkter Stein. Um das Hinterteil zu schützen, breitete er etwas Laub auf dem feuchten Boden aus. Dann setzte er sich hin und zog die Beine an die Brust. Er legte eine Palmnuss auf den Amboss, hielt sie mit dem Mittel- und Zeigefinger fest und schlug mit dem Hammer zu, wobei er die Finger im letzten Moment wegzog. Die Nuss rollte unter dem Hammer und flutschte unbeschädigt weg; Capo hielt sie auf und versuchte es erneut. Es war eine knifflige Prozedur, die viel Geschick erforderte. Doch schon nach dem dritten Versuch hatte Capo die erste Nuss geknackt und aß die Kerne auf.
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