Capo wusste, dass er diese Auseinandersetzung unbedingt für sich entscheiden musste. Wenn er nun klein beigab, verlor er angesichts Felsbrockens Kreis blutrünstiger Jäger vielleicht nicht nur seinen Status, sondern auch gleich das Leben.
Mit einer Beweglichkeit, die man ihm bei seinem Alter gar nicht mehr zugetraut hätte, machte er einen Satz, schlug Felsbrocken nieder und setzte sich auf seine Brust. Dann deckte er Felsbrockens Kopf und Oberkörper mit harten Schlägen ein. Felsbrocken wehrte sich zwar. Doch außer der Jugend war Capo im Vorteil und warf Überraschungsmoment, Erfahrung und Autorität in die Waagschale. Felsbrocken war unter Capo eingeklemmt und vermochte die kräftigen Arme und Beine nicht richtig zum Einsatz zu bringen.
Capo sah, dass er den Kampf in den Augen der restlichen Horde allmählich für sich entschied, was genauso wichtig war wie der Sieg über Felsbrocken. Die Gefolgsleute des jungen Männchens schienen zwischen den Bäumen verschwunden zu sein, und die Erregungsschreie und Anfeuerungsrufe, die Capo hörte, schienen nun ihm zu gelten.
Doch selbst während er Felsbrocken niederrang, wurde der intelligente Capo durch etwas abgelenkt.
Er dachte an die sterbenden Bäume, die er vom Rand der Waldinsel aus gesehen hatte, an die schnelle Rückkehr von Felsbrocken und seiner Truppe, an ihren offensichtlichen Hunger und den Jagdtrieb.
Felsbrocken hatte keinen anderen Platz gefunden. Das Wäldchen schrumpfte. Es war immer kleiner geworden, solange er sich erinnerte, und nun vermochte man die Augen nicht mehr davor zu verschließen. Es gab nicht mehr genug Platz für sie. Wenn er die Gruppe hier zu behalten versuchte, würden wegen der Konkurrenz um die schwindenden Ressourcen die Spannungen unter ihnen unerträglich werden.
Sie würden weiterziehen müssen.
Schließlich gab Felsbrocken auf. Er erschlaffte unter Capo, umfasste das Hinterteil des älteren Männchens und streichelte ihm sogar kurz den noch immer erigierten Penis – Gesten der Unterwerfung. Um ihm seinen Standpunkt nachhaltig klarzumachen, bearbeitete Capo noch für eine Weile Felsbrockens Kopf. Dann stieg er vom geschlagenen jungen Männchen herunter. Mit immer noch gesträubtem Fell schlug er sich in die Büsche, wo er ungeniert humpeln und die schmerzende Brust massieren durfte, ohne dass die anderen ihm das als Schwäche auslegten.
Hinter ihm fielen die anderen über die Meerkatze her. Ihre Mägen vermochten Fleisch nicht gut zu verdauen; sie würden später den Kot nach halb verdauten Fleischbrocken durchsuchen und sie nochmals essen. Das Verdauungssystem bedurfte der Verbesserung, wenn die Nachkommen dieser Geschöpfe in der Savanne überleben wollten.
Seit Streuners Zeiten hatte Gras die Welt verändert. Die epochale Abkühlung der Erde dauerte an. Je mehr Wasser in der antarktischen Eiskappe gebunden wurde, desto weiter sank der Meeresspiegel, und Binnenmeere schrumpften oder wurden vom Ozean getrennt. Und in dem Maß, wie die kontinentalen Landmassen die Meere verdrängten, vermochten sie immer weniger als Puffer für die klimatischen Wärme- und Kälteextreme zu dienen. Das verwitternde Gestein zog Kohlendioxid aus der Luft und verringerte ihre Fähigkeit, die Sonnenwärme zu speichern. Der Planet hatte durch die Abkühlung und Austrocknung einen Rückkopplungs-Mechanismus in Gang gesetzt, der den Trend zur Trockenheit und Abkühlung weiter verstärkte.
Inzwischen entstanden durch tektonische Kollisionen neue Gebirgszüge: die Anden in Südamerika und der Himalaja in Asien. Diese neuen Auffaltungen warfen riesige Regen-Schatten über die Kontinente; in einem solchen Schatten sollte bald die Wüste Sahara entstehen. In der neuen Trockenheit schoben große Laubwald-Gebiete sich von Süden und Norden auf den Äquator zu.
Und das Grasland breitete sich aus.
Gräser, die in großen Mengen auftraten und durch vom Wind verwehte Pollen bestäubt wurden, waren der ideale Bewuchs für die neuen offenen und trockenen Zonen. Gräser vermochten auch bei dem sporadischen Regen zu existieren, der nun fiel, wogegen die meisten Bäume, deren Wurzeln immer tiefer in den Boden reichten, in der Trockenheit keine Chance hatten. Das eigentliche Geheimnis der Gräser lag jedoch in den Halmen. Die Blätter der meisten Pflanzen entwickelten sich aus Schösslingen. Anders beim Gras: Die Grashalme sprossen aus unterirdischen Stielen. Also vermochte Gras sich auch dann zu regenerieren, wenn ein hungriges Tier es bis auf den Boden abgefressen hatte.
Diese Qualitäten hatten es dem Gras ermöglicht, eine ganze Welt zu übernehmen und sie zu ernähren.
Die neuen Gras weidenden Pflanzenfresser entwickelten spezialisierte Wiederkäuer-Mägen, um das Grasfutter über lange Zeiträume zu verdauen und ihm alle Nährstoffe zu entziehen. Außerdem bildeten sie Zähne aus, die dem Schmirgeleffekt der Quarzkörnchen in den Grashalmen zu widerstehen vermochten. Viele Pflanzenfresser begaben sich wegen der jahreszeitlich unterschiedlichen Regenfälle auf Wanderschaft. Diese neuen Säugetiere waren größer als ihre urzeitlichen Vorfahren, schlank und langbeinig mit spezialisierten Füßen und einer reduzierten Zehenanzahl, um große Entfernungen zu gehen und zu rennen. Inzwischen waren auch viele neue Nagetierarten wie Wühlmäuse und Feldmäuse entstanden, die sich von Grassamen zu ernähren vermochten.
Und es kamen neue Fleischfresser auf, die für die Jagd auf die Herden der großen Pflanzenfresser ausgestattet waren. Die Regeln des alten Spiels hatten sich jedoch geändert. In der schlechten Deckung des Graslandes machten die Räuber die Beute schon aus großer Entfernung aus – und umgekehrt. So starteten Räuber und Beute ein Stoffwechsel-Wettrüsten, bei dem der Schwerpunkt auf Geschwindigkeit und Ausdauer lag; sie entwickelten noch längere Beine und schnellere Reaktionen.
Eine neue Art von Landschaft entstand, vor allem an den Ostküsten der Kontinente, die vom überwiegenden Westwind und dem Regen geschützt waren, den er brachte. Es handelte sich um offene, mit Gras bewachsene Ebenen, die durch vereinzelte Büsche und Bäume charakterisiert wurden. Und die Tiere, die sich an die neue Vegetation anpassten, wurden mit einer garantierten Futterquelle belohnt, die sich über hunderte Kilometer erstreckte.
Durch die Spezialisierung und die Stabilität des Graslands wurden die Pflanzenfresser jedoch auf die Gräser beschränkt und die Räuber auf ihre Beute, sodass eine enge gegenseitige Abhängigkeit entstand. In dieser Periode unterschieden Hirsche, Kühe, Schweine, Hunde und Kaninchen sich kaum noch von ihren Pendants des Menschenzeitalters, das fünf Millionen Jahre später einsetzen sollte. Dennoch hätten viele Tiere erstaunlich groß angemutet; allerdings wurden sie später von kleineren und schnelleren Verwandten verdrängt.
Inzwischen hatte die Eröffnung der Landbrücken, die durch den sinkenden Meeresspiegel entstanden, eine große Tier-Wanderung ausgelöst. Drei Arten von Elefanten – das Deinotherium (fraß Laub von den Bäumen), das Gomphotherium (fraß einfach alles) und das Mastodon (ein Weidetier) – wanderten von Afrika nach Asien ein. Begleitet wurden sie von Menschenaffen, Capos Verwandten. Aus der Gegenrichtung kamen Nagetiere und Insektenfresser, Katzen, Rhinozerosse, Maushirsche, Schweine sowie urtümliche Giraffen- und Antilopenarten.
Es gab auch ein paar Exoten, vor allem auf den Inseln und den isolierten Kontinenten. In Südamerika gediehen die größten Nagetiere, die jemals gelebt hatten; es existierte beispielsweise eine Meerschweinchen-Art so groß wie ein Nilpferd. In Australien hatten Kängurus ihr Debüt gegeben. Und in Nordamerika, Europa und Asien tauchten Tiere auf, die später als tropisch bezeichnet wurden. So suhlten sich zum Beispiel Nilpferde und Elefanten in der Flutebene der breiten und sumpfigen Themse. Die Welt hatte sich seit Noths Zeiten stark abgekühlt, aber deswegen war sie noch nicht kalt; die tiefste Kälte sollte erst noch kommen.
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