Als die anderen sahen, was dort vorging, scharten sie sich um Capo, und die Älteren fertigten auch Stöcke zum Stochern an. Alsbald etablierte sich eine Hackordnung, die durch Tritte, Schläge, Schreie und ›taktisches‹ Kämmen gefestigt wurde. Die ranghöheren Männchen und Weibchen versammelten sich gleichberechtigt um den Hügel, während die Jungen, die ohnehin nicht begriffen, was hier los war, ausgeschlossen wurden. Capo kümmerte das aber nicht. Er konzentrierte sich nur darauf, die Stellung am Hügel zu halten und labte sich an den Termiten.
Die Termiten waren uralte Geschöpfe, deren komplexe Gesellschaft das Ergebnis einer eigenen langen Entwicklungsgeschichte war. Dieser Hügel war schon alt und aus Lehm errichtet worden, der sich hier abgelagert hatte, als vereinzelte Wolkenbrüche das Tal zeitweise überflutet hatten. Der steinharte Panzer schützte die Termiten vor den Zudringlichkeiten der meisten Tiere – nicht aber vor diesen Menschenaffen.
Capos Werkzeugeinsatz – die Termiten-Angelruten, die Hammer-Steine, die Blätter, die er zu Schwämmen zerkaute, um Wasser aus Hohlräumen zu ziehen, und sogar die kleinen zahnstocherartigen Stöckchen, mit denen er manchmal Zahnpflege betrieb – schien auf einem hohen Niveau zu erfolgen. Er wusste, was er erreichen wollte, und er wusste auch, welche Art Werkzeug er brauchte, um es zu erreichen. Er merkte sich den Lagerort der Lieblingswerkzeuge wie die Hammer-Steine und entschied, welches Werkzeug für welchen Zweck am besten geeignet war – zum Beispiel musste er in Abhängigkeit von der Schlaghöhe das Gewicht des Hammers kalkulieren. Und er begnügte sich nicht damit, einen handlichen Stein zu benutzen, den er irgendwo gefunden hatte; er änderte die Werkzeuge auch, wie diese Termiten-Angelrute.
Dennoch war er nicht mit einem menschlichen Handwerker zu vergleichen. Die Änderungen, die er vornahm, waren gering: Die nach Gebrauch weggeworfenen Werkzeuge wären nur schwer von den Erzeugnissen der unbeseelten Welt zu unterscheiden gewesen. Die Handlungen, mit denen er die Werkzeuge fertigte, entstammten dem normalen Repertoire wie Beißen, Entlauben und Steine werfen. Niemand hatte wirklich neue Abläufe erfunden, wie das mit Lehm werfen eines Töpfers oder die Feinmotorik eines Holzschnitzers. Er benutzte ein Werkzeug – und nur eins – für einen ganz bestimmten Zweck. Es kam ihm nie in den Sinn, dass man eine Termiten-Angelrute auch als Zahnstocher verwenden könne. Wenn er einmal ein funktionierendes Design gefunden hatte, verbesserte er die Werkzeuge nicht mehr. Und selbst wenn er – durch einen unwahrscheinlichen Zufall – im Lauf seines Lebens ein neues Werkzeug entwickelt hätte, dann hätte dieses Werkzeug, und wäre es noch so gut gewesen, sich nur sehr langsam in seiner Gemeinschaft durchgesetzt. Es hätte vielleicht sogar Generationen gedauert. Die Lehre, also das Konzept, dass man den Bewusstseins-Inhalt von jemand anders durch Ausprobieren und Vorführung zu formen vermochte, musste erst noch entdeckt werden.
Deshalb war Capos Werkzeugsatz extrem beschränkt und sehr konservativ. Schon vor fünf Millionen Jahren hatten Capos Vorfahren, Geschöpfe einer anderen Art, Werkzeuge benutzt, die seinen kaum nachstanden. Er war sich nicht einmal der Tatsache bewusst, dass er überhaupt Werkzeug benutzte.
Und doch war Capo, der fleißig arbeitete, der wusste, was er wollte, der das geeignete Material auswählte, um sein Ziel zu erreichen und der die Welt um sich herum neu erschuf und formte, der bislang Klügste in der langen Ahnenreihe seit Purga. Es war, als ob ein Feuer in seinen Augen, im Bewusstsein und in den Händen schwelte – ein Feuer, das bald hell auflodern würde.
Als die Sonne hinterm Horizont verschwand und es dunkel wurde im Tal, drängten die Menschenaffen sich zusammen. Missmutig stießen, schubsten und schlugen sie sich und schrien sich gegenseitig an. Sie gehörten nicht hierher. Sie hatten keine Waffen, mit denen sie sich zu verteidigen und kein Feuer, mit dem sie die Tiere abzuschrecken vermochten. Sie hatten nicht einmal den Instinkt, sich ab Sonnenuntergang, wo die Stunde der Räuber schlug, ruhig zu verhalten. Alles, was sie hatten, war der gegenseitige Schutz und die große Anzahl – die Hoffnung, dass es einen anderen erwischte und nicht mich.
Capo vergewisserte sich, dass er im Mittelpunkt der Horde war, umgeben von den kräftigen Leibern der anderen Erwachsenen.
Das junge Männchen namens Elefant hatte keinen allzu großen Selbsterhaltungstrieb. Und seine Mutter, die irgendwo in der Menge steckte, war zu sehr mit ihrem jüngsten Kind, einem Weibchen beschäftigt. Elefant spielte im Moment eine Nebenrolle. Er hatte das Pech, im falschen Alter zu sein: Er war schon zu alt, um von den Erwachsenen beschützt zu werden und noch zu jung, um sich einen Platz in der sicheren Mitte zu erkämpfen.
Er wurde an den Rand der Horde gedrängt und versuchte sich dort einzurichten. Er fand einen Platz in der Nähe von Finger, einem Cousin. Im Gegensatz zu den weichen Nestern, an die er gewöhnt war, war der Boden hier hart und trocken; dennoch gelang es ihm, eine flache Mulde auszuheben. Er schmiegte sich mit dem Bauch an Fingers Rücken.
Er war noch so jung, dass er sich nicht einmal der Gefahr bewusst war, in der er schwebte. Er fiel in einen unruhigen Schlaf.
Später, es war schon dunkel, wurde er durch ein leises Zwicken an der Schulter geweckt. Es war fast sanft, als ob er gekämmt würde. Er regte sich etwas und kuschelte sich noch enger an Fingers Rücken. Doch dann spürte er einen heißen Atem auf der Wange, hörte ein schnurrendes Grollen wie ein Felsbrocken, der einen Abhang hinunterkullerte, und roch einen Atem, der nach Fleisch stank. Er war sofort hellwach. Das Herz schlug ihm bis zum Hals. Er schrie auf und krümmte sich.
Die Schulter war aufgerissen und schmerzte. Er wurde rückwärts geschleift wie ein Ast, der von einem Baum abgerissen wurde. Er erhaschte einen letzten Blick auf die Horde. Alle waren aufgewacht, schrien panisch und fielen bei ihren Fluchtversuchen übereinander. Dann wirbelte der Sternenhimmel über ihm, und er wurde so hart auf den Boden geschleudert, dass ihm die Luft aus der Lunge gepresst wurde.
Eine schlanke Gestalt, deren Silhouette sich gegen den blau-schwarzen Himmel abzeichnete, beugte sich über ihn. Er spürte, wie eine muskulöse Brust sich fast liebevoll an ihn schmiegte. Da waren ein Fell mit einem Brandgeruch, ein nach Blut riechender Atem und zwei gelbe Augen, die über ihm leuchteten.
Dann wurde er gebissen – in die Beine und die Niere. Es waren scharfe, fast skalpellartige Stiche, und er wand sich unter dem feurigen Schmerz. Er wälzte sich kreischend herum und versuchte zu fliehen. Aber die Beine versagten den Dienst, denn die Sehnen waren durchtrennt. Nun spürte er wieder dieses Zwicken am Hals. Er wurde von dem Fellding aufgehoben und spürte, wie spitze Zähne sich ihm ins Fleisch gruben. Zuerst wehrte er sich und scharrte mit den Händen im Geröll, doch dadurch rissen die Wunden am Hals nur weiter auf, und der Schmerz wurde stärker.
Er gab auf. Er hing schlaff im Maul der Chasma und schlug mit dem Kopf und den verletzten Beinen auf den unebenen Boden. Die Gedanken verflüchtigten sich. Er hörte nicht mehr die lauten Schreie der Horde. Er war nun allein, allein mit dem Schmerz, dem metallischen Geruch seines eigenen Bluts und den stetigen Schritten der auf Samtpfoten einher schreitenden Chasma.
Vielleicht war er auch für eine Weile bewusstlos.
Er fiel auf den Boden. Er fiel nicht hart, aber alle Wunden schmerzten. Winselnd versuchte er sich hochzustemmen. Der Boden war mit Geröll übersät wie der Ort, von dem er gekommen war, war aber mit Fellbüscheln bedeckt und stank nach Chasmas.
Und nun sprangen in der Dunkelheit kleine schwarze Gestalten um ihn herum. Sie bewegten sich schnell, aber auch etwas tapsig. Er spürte Schnurrhaare über sein Fell streichen und spitze Zähnchen in den Fußknöcheln und Handgelenken. Das waren Chasma-Junge. Er stieß einen trotzigen Schrei aus und schlug blindlings um sich. Dabei erwischte er ein warmes kleines Bündel, das jaulend von den Füßen gerissen wurde.
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