Ein kurzes bellendes Brüllen ertönte: Das war die Chasma-Mutter. In plötzlicher Panik versuchte er davon zu kriechen.
Die Jungen kläfften aufgeregt, als sie die kurze Verfolgungsjagd beendet hatten. Und nun fraßen sie ihn ernstlich an und schlugen ihm die Zähne in den Rücken, das Gesäß und den Bauch. Er rollte sich auf den Rücken, zog die Beine an die Brust und schlug in die Luft. Aber die Jungen waren ebenso schnell wie zornig und hartnäckig; bald hatte einer ihm die Zähne in die Backe geschlagen und hängte sich mit seinem ganzen Gewicht an ihn, um ihm das Gesicht aufzureißen.
Mit einem neuerlichen Brüllen verscheuchte die Mutter die Jungen. Wieder versuchte Elefant zu fliehen. Wieder holten die Jungen ihn ein und brachten ihm ein Dutzend weitere kleine, aber schwächende Wunden bei.
Ohne die Jungen hätte das Chasma kurzen Prozess mit Elefant gemacht. Doch sie wollte ihnen die Gelegenheit geben, zu üben, eine Beute zu jagen und zu erlegen. Wenn sie älter wären, würden sie ihre Beute selbst zur Strecke bringen und zerfleischen; später würde die Mutter ihre Beute fast unverletzt wieder laufen lassen und die Jungen auf sie ansetzen. Das war eine Art praxisbezogenes Lernen, hatte aber genauso wenig mit menschlicher Ausbildung zu tun wie bei den Menschenaffen: Es war ein angeborenes Verhalten, das diese kluge Fleischfresser-Spezies entwickelt hatte, um die Jungen mit den Fertigkeiten auszustatten, die sie für die Jagd brauchten.
Während der ›Unterricht‹ weiterging, war Elefant noch bei Bewusstsein. Ein Funken Entsetzen und Sehnsucht, der in einer zerfetzten Hülle aus Blut, Fleisch und Gewebe eingebettet war. Das älteste Junge knabberte seine Zunge an, die ihm aus dem zerstörten Mund hing.
Aber die Jungen waren noch zu klein, um Elefant allein den Garaus zu machen.
Schließlich griff die Mutter ein. Das Letzte, was Elefant hörte, als ihr Maul sich um seinen Kopf schloss – er spürte spitze Zähne am Kopfumfang wie eine Dornenkrone –, war dieses entfernte schnurrende Grollen.
Am nächsten Morgen wussten alle, dass es Elefant erwischt hatte.
Capo schaute fasziniert auf den mit Haaren übersäten Geröllabschnitt, wo Elefant kurz Widerstand geleistet hatte, auf die Linie aus blutigen Pfotenabdrücken, die schon eingetrocknet und braun verfärbt waren und in der Ferne verschwanden. Er verspürte ein vages Bedauern beim Verlust von Elefant. Es verwirrte ihn, dass er diesen unbeholfenen Jungen nie mehr wieder sehen würde, der sich beim Kämmen und Knacken von Palmnüssen so ungeschickt angestellt hatte.
Doch der Tag war noch nicht vorbei, als nur Elefants Mutter sich noch an ihn erinnerte. Und wenn sie irgendwann starb, würde niemand mehr wissen, dass er jemals gelebt hatte. Er würde im großen Dunkel verschwinden, das all seine Vorfahren verschlungen hatte.
Elefant hatte den Preis für das Überleben der Horde gezahlt. Capo verspürte eine kalte Erleichterung. Ohne zu zögern bewegte Capo sich den Anhang hinunter und betrat die Salzebene. Er verzichtete sogar auf die Aufforderung an die Horde, ihm zu folgen.
Am nächsten Tag mussten sie das Salz durchqueren. Unter einem ausgewaschenen, blauweißen Himmel erstreckte die Pfanne sich fast bis zum Horizont, wo Capo Hügel, Wald und Feuchtgebiete ausmachte. Es war, als ob diese graue Schicht ein Makel wäre, mit dem die Welt behaftet war.
Die Salzschicht, die harten grauen Lehm bedeckte, war dünn. Aber sie hatte eine Textur und war hier und da mit weiten konzentrischen Kreisen markiert, die um zentrale Knoten zentriert waren. An einer Stelle war das Salz von einer unterirdischen Quelle zu großen Blöcken aufgeworfen worden, über die die Menschenaffen hinwegklettern mussten.
Aber es wuchs nichts im Salz. Es gab nicht einmal irgendwelche Spuren. Und es regte sich nichts außer den Menschenaffen: weder Kaninchen noch Nagetiere, nicht einmal Insekten. Der Wind strich stöhnend über diese tote Landschaft, ohne dass sich ihm Bäume, Büsche oder Gräser entgegengestellt hätten, die er zum Rauschen anzuregen vermocht hätte.
Dennoch musste Capo weitergehen, denn er hatte keine andere Wahl.
Es dauerte Stunden, die Salzpfanne zu durchqueren. Doch schließlich merkte Capo, dem schon die Füße und Hände wehtaten, dass er eine Steigung erklomm. Auf dem Kamm des Höhenzugs war ein Waldgürtel – auch wenn der Wald dicht war und nicht sehr einladend wirkte.
Capo hielt inne und musterte den Wald. Er war überhitzt und Beine und Füße bluteten aus einem Dutzend kleiner Wunden. Dann gab er sich einen Ruck und drang ins grüne Dämmerlicht des Waldes ein.
Der Boden war unter einem Gewirr aus Wurzeln, Ästen, Moos und Laub verborgen. Überall wuchs büschelweise wilder Sellerie. Obwohl es gegen Mittag war, war die Luft hier kühl und feucht. Es war diesig wie bei einem Morgennebel. Die Bäume waren glitschig, und die Flechten und das Moos hinterließen lästige grüne Streifen auf den Handflächen. Die Feuchtigkeit schien sogar durchs Fell zu dringen. Nach der trockenen Salzpfanne genoss er jedoch das tröstliche grüne Geflecht um sich herum und verschlang die Blätter, Früchte und Pilze, derer er habhaft wurde. Und er fühlte sich vor Räubern sicher. Es gab sicherlich nichts, was der hungrigen, müden Horde in diesem grünen Wald gefährlich zu werden vermochte.
Plötzlich sah er direkt vor sich massige schwarzbraune Gestalten. Sie waren durch den grünen Schleier aber nur schemenhaft zu sehen. Er erstarrte.
Ein mächtiger Arm, der dicker war als Capos Schenkel, griff nach einem Ast. Muskeln arbeiteten in einer massigen Schulter, und der Ast wurde mit der gleichen Leichtigkeit zerbrochen, mit der Capo einen Zweig abbrach, um die Zähne zu reinigen. Große Finger rissen Blätter von den Ästen und stopften sie in ein riesiges Maul. Der Kopf arbeitete, als das große Tier kaute: Muskelstränge wirkten auf Kopf und Kiefer gleichzeitig.
Diese Kreatur war ein Menschenaffen-Männchen, wie Capo eins war – aber es war doch nicht wie Capo. Das große Männchen betrachtete die seltsamen, struppigen kleinen Menschenaffen ohne Neugier. Es wirkte mächtig und bedrohlich. Aber es bewegte sich nicht. Das Männchen und ein kleiner Clan aus Weibchen und Kindern saßen nur herum und fraßen das Laub und den wilden Sellerie, der den Waldboden bedeckte.
Das war ein Gorilla: ein entfernter Verwandter von Capo. Seine Art hatte sich schon vor einer Million Jahren von der Hauptlinie der Menschenaffen abgespalten. Diese Trennung war erfolgt, als der Wald sich gelichtet und die in ihm lebenden Populationen isoliert hatte. Nachdem sie in die Gipfelregionen zurückgedrängt worden waren, hatten diese Menschenaffen ihre Ernährung auf Blätter umgestellt, die selbst hier im Überfluss vorhanden waren, und waren so groß geworden, dass sie der Kälte zu widerstehen vermochten. Zugleich hatten sie sich eine eigentümliche Grazie bewahrt und waren in der Lage, sich lautlos durch diesen dichten Wald zu bewegen.
Obwohl Gorilla-Populationen sich später wieder an die Bedingungen im Tiefland anpassten und lernten, auf Bäume zu klettern und sich von Früchten zu ernähren, hatten sie ihren evolutionären Sinn im Grunde schon erfüllt. Sie hatten sich auf ihre jeweiligen Umgebungen spezialisiert und gelernt, sich Nahrungsquellen zu erschließen, die so gut geschützt waren – mit Widerhaken, Stacheln und Dornen –, dass niemand sonst sich dafür interessierte. Sie aßen sogar Nesseln. Dafür hatten sie ein raffiniertes Verfahren entwickelt, bei dem sie Blätter von einem Stiel abrissen, die scharfen Blattränder umklappten und das ganze Paket in den Mund steckten.
Wie sie im idyllischen Bergwald saßen und genüsslich ihre Blätter aßen, würden sie fast unverändert bis ins Menschenzeitalter überleben, wo sie schließlich vom großen Sterben dahingerafft werden sollten.
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