Als er sich vergewissert hatte, dass die Gorillas keine Gefahr bedeuteten, verzog Capo sich und führte die anderen weiter durch den Wald.
Schließlich trat Capo auf der anderen Seite aus dem Wald heraus.
Sie hatten das trockene Tiefland-Becken überwunden. Als er in südlicher Richtung über das Plateau schaute, das er erreicht hatte, erblickte er ein geröllübersätes Tal, das zu einem tiefer gelegenen Gelände abfiel. Und dort, jenseits des Tals, sah er auch das Land, in das er seine Hoffnung gesetzt hatte: Es lag höher als die Ebene, von der er ausgezogen war, aber mit reichlich Wasser gesegnet. Das Gebiet war mit schimmernden Seen durchsetzt, mit grünem Gras überzogen und mit Waldinseln gesprenkelt. Die schemenhaften Gestalten einer Herde Pflanzenfresser – Proboscidea vielleicht –, die majestätisch über die üppige Ebene wanderten.
Mit Triumphgeheul sprang er über Felsbrocken, trommelte auf den steinigen Boden und schiss explosiv, wobei er die Felsen mit seinem Gestank imprägnierte.
Die Begeisterung von Capos Horde hielt sich jedoch in Grenzen. Alle hatten Hunger und einen brennenden Durst. Capo war selbst erschöpft. Aber er führte trotzdem einen Freudentanz auf; er gehorchte einem gesunden Instinkt, dass jeder Erfolg, und sei er noch so klein, gefeiert werden müsse.
Nun hatte er jedoch eine solche Höhe erreicht, dass dieses ferne Dauer-Grollen aus dem Westen lauter geworden war. Mit verhaltener Neugier drehte Capo sich um und schaute in diese Richtung.
Von dieser hohen Warte aus vermochte er weit zu blicken. In der Ferne machte er eine Turbulenz aus, eine weiße Verwirbelung. Sie schien wie eine wallende Wolke überm Erdboden zu schweben. In Wirklichkeit sah er eine Art Luftspiegelung, ein weit entferntes Bild, das durch die Brechung der sich erwärmenden Luft direkt vor ihm zu stehen schien. Die wallende Wolke war indes real.
Was er da sah, war die Straße von Gibraltar, wo der mächtigste Wasserfall der Geschichte – mit der Energie und dem Volumen von tausend Niagarafällen – kaskadenartig über Klippen stürzte und sich in ein leeres Meeresbecken ergoss. Einst hatte die Ebene, aus der Capo emporgestiegen war, zwei Kilometer tief unter dem Meeresspiegel gelegen. Sie war der Boden des ausgetrockneten Mittelmeers.
Capo war in dem Becken geboren worden, das zwischen den Küsten Afrikas im Süden und der iberischen Halbinsel im Norden lag. Er war auch nicht weit von dem Punkt entfernt, wo ein schlauer Dinosaurier namens Lauscher vor langer Zeit an der Küste von Pangäa gestanden und aufs weite Tethys-Meer hinausgeschaut hatte. Nun hatte Capo das Bassin verlassen und befand sich in Afrika. Doch wenn Lauscher die Geburt von Tethys geschaut hatte, war Capo in gewisser Weise Augenzeuge seines Todes. Als der Meeresspiegel absank, war dieses letzte Fragment von Tethys vor Gibraltar gestaut worden. Das eingeschlossene Meer war verdunstet und hinterließ ein stellenweise fünf Kilometer tiefes Becken, das mit Salzpfannen durchsetzt war.
Durch die Klimaschwankungen stieg der Meeresspiegel aber wieder an, und das Wasser des Atlantiks durchbrach die Barriere von Gibraltar. Nun wurde das Meer wieder aufgefüllt. Capo musste jedoch nicht befürchten, dass eine riesige Flutwelle aus Westen über ihm zusammenschlug, denn nicht einmal tausend Niagarafälle vermochten ein Meer über Nacht aufzufüllen. Das durch die Meerenge von Gibraltar strömende Wasser flutete das Becken allmählich und erschuf mächtige Flüsse. Der alte Meeresboden verwandelte sich in feuchtes Marschland, wo die Vegetation langsam abstarb. Schließlich vereinigten die Flüsse sich und bedeckten den ganzen Boden.
Doch nach jeder Auffüllung sank der Meeresspiegel, und das Mittelmeer verdunstete wieder. Das geschah fünfzehn Mal in einer Million Jahren, der zeitlichen Klammer für Capos kurzes Leben. Der Meeresboden des Mittelmeers erlangte durch die aufeinander folgenden Austrocknungen eine komplexe Geologie mit einer Sandwichstruktur aus Schlamm und Salzpfannen.
Diese Strukturen hatten maßgebliche Auswirkungen auf das Gebiet, in dem Capo lebte – und auf seine Art. Vor der Austrocknung war die Sahara-Region dicht bewaldet und wasserreich gewesen und hatte vielen Affenarten eine Heimat geboten. Durch die Klimapumpe der Austrocknungen und den immer längeren Regenschatten, den der entfernte Himalaja warf, wurde die Sahara jedoch immer trockener. Die alten Wälder starben ab. Und mit ihnen zersplitterten die Affen-Gemeinschaften, wobei jede Teil-Population sich auf eine Reise zu einem neuen evolutionären Schicksal begab – oder in den Untergang.
Aber das Rumoren und Gibraltar waren zu weit entfernt, um irgendeine Bedeutung für Capo zu haben. Er wandte sich ab und stolperte zur Ebene hinab.
Schließlich überschritt er die Grenze zwischen nacktem Gestein und Vegetation. Er genoss das weiche grüne Gras unter den Knöcheln, während er sich zügig fortbewegte. Auch die anderen, die ihm folgten, freuten sich über den Kontrast zum harten leblosen Fels. Sie rollten sich auf dem Boden, streckten sich aus und wickelten sich in die langen Gräser.
Aber noch hatten sie die neue Heimat nicht erreicht. Ein ein paar hundert Meter breiter Abschnitt offener Savanne, mit Dornbüschen bewachsen, trennte sie vom nächsten Wald – und in der Ebene tat sich etwas.
Ein Rudel Hyänen fraß an einem Kadaver. Bei der massigen runden Form hatte es sich vielleicht um ein junges Gomphotherium gehandelt, das einem Chasma zum Opfer gefallen war. Die Hyänen schnappten nacheinander und knurrten sich gegenseitig an, während sie sich über das Fleisch hermachten. Sie hatten die Köpfe in den Bauch der Kreatur gesteckt, und die schlanken Leiber krümmten sich gierig beim Fressen.
Wedel und Finger schlossen zum im Gras kauernden Capo auf. Sie stießen leise Rufe aus, kämmten Capo mechanisch den Rücken und entfernten Staub und Steinchen. Die jüngeren Männchen respektierten seine Autorität noch. Aber Capo spürte ihre Ungeduld. Wie der Rest der Horde waren auch sie nach der unheimlichen Wanderung durch das offene Gelände erschöpft, durstig und hungrig und sehnten sich nach dem Schutz und dem Nahrungsangebot der Bäume. Und das untergrub Capos Autorität über sie. Die Spannung zwischen den drei Männchen war mit Händen zu greifen.
Aber es war eine Konfrontation, die fast lautlos ablief, denn die drei durften ihre Anwesenheit den Hyänen nicht verraten.
Während Capo noch zögerte, ergriff Wedel die Initiative und machte einen, zwei vorsichtige Schritte. Wegen dieses Ungehorsams versetzte Capo ihm einen derben Schlag gegen den Hinterkopf. Wedel fletschte aber nur die Zähne und entzog sich Capos Reichweite.
Die hohen Gräser wogten träge bei Wedels Durchgang, als ob er durch ein Meer aus Vegetation schwämme. Und nun stellte Wedel sich auf die Hinterbeine und schob sich mit Kopf, Schultern und Oberkörper übers Gras, um besser zu sehen. Er war ein schlanker aufrechter Schemen, der wie ein Schössling wirkte.
Die Hyänen waren noch immer mit ihrer fetten Beute zugange. Wedel duckte sich wieder im Gras und setzte den Weg fort.
Schließlich erreichte er die nächste Baumgruppe. Mit einer Mischung aus Verärgerung und Erleichterung sah Capo ihn eine hohe Palme erklimmen. Beine und Arme arbeiteten synchron wie Teile einer gut geölten Maschine. Als Wedel die Palme erklommen hatte, teilte er es den anderen mit einem leisen Ruf mit. Dann pflückte er Nüsse von der Palme und warf sie auf den Boden.
Einer nach dem andern eilten die Menschenaffen unter der Führung von Finger und dem Alpha-Weibchen Blatt durchs Gras auf das Wäldchen zu.
Sie wurden nicht von den Hyänen bedrängt, obwohl einige der Aasfresser die verwundbaren Menschenaffen witterten. Sie hatten das Glück, dass in den blutigen Kalkulationen der kleinen Hyänen-Hirne die Verlockung des unmittelbar verfügbaren Fleisches stärker war als die Versuchung, diese staubigen und zerfleddert wirkenden Primaten anzugreifen.
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