Nahe dem flachen schlammigen Seeufer war das Eis dünn und rissig, und Noth roch offenes Wasser. Das grünliche Wasser wimmelte von Leben und war mit grauen Brocken der alten Eisdecke bedeckt. Noth tunkte die Schnauze ins Wasser und trank. Dadurch löste sich auch der größte Teil des zähen Schleims zwischen den Zähnen.
Er sah, dass Zusammenballungen durchsichtiger grauer Kügelchen im Wasser schwammen – der Laich der amphibischen Seebewohner, den sie so früh wie möglich abgelegt hatten. Und in der Nähe, in den Untiefen zu seinen Füßen, machte Noth winzige zuckende Wesen aus: die ersten Kaulquappen. Er fuhr mit der Hand durchs Wasser, schöpfte den Schleim ab und stopfte sich die glibbrige Masse in den Mund.
Dann wurde die Darmtätigkeit aktiviert, und wässriger Kot sammelte sich unter ihm.
Und dann brach das Eis mit einem lauten Knacken auf, und etwas kam an die Wasseroberfläche. Etwas Großes kam aus dem See. Mit großen Augen huschte Noth in die Deckung der nächsten Bäume.
Wie Noth war auch das Krokodil früh erwacht und von der Helligkeit des Tags aus dem Schlaf gerissen worden. Als es aus dem See kam, rutschten ihm Eisbrocken vom Rücken. Mit einer geschmeidigen Bewegung schnappte es den gefrorenen Meso. Eis splitterte, und Knochen knackten. Dann glitt das Kroko rückwärts ins Wasser und zog den Kadaver mühelos und fast geräuschlos mit.
Das Krokodil war hungrig.
Vor dem Kometen waren die größten Tiere in allen Ökologien der Erde Reptilien gewesen: die Plesiosaurier und Ichthyosaurier in den Meeren, die Dinosaurier an Land und die Krokodile im Süßwasser. Die Katastrophe hatte diese Familien ausgelöscht, und in ihren leeren Reichen sollten sie bald durch funktional gleichwertige Säugetiere ersetzt werden – alle außer den Krokodilen.
Die Lebensbedingungen in der Süßwasser-Umgebung waren schon immer schwierig gewesen. Während die Versorgung mit pflanzlichem Material an Land und im Meer räumlich und zeitlich geregelt war, waren Süßwasser-Umgebungen sehr variabel. Erosion, Abrasion, Verlandung, Überschwemmungen, Dürre und starke Schwankungen der Wasserqualität waren die Risiken.
Aber das Krokodil – und andere robuste Süßwasser-Arten wie Schildkröten – waren widerstandsfähig. Manche lernten, auf der Suche nach Wasser über Land zu gehen. Andere wichen ins Meer aus. Oder sie gruben sich metertief in den Schlick ein und warteten auf den nächsten Wolkenbruch. Und was die Nahrung betraf, lebten sie selbst während der größten Auslöschungen an Land und im Meer von den Nährstoffen, die von den Kadavern, mit denen das Land übersät war, in einem steten Strom in den Untergrund einsickerten.
Auf diese Art hatten die Krokodile über hundertfünfzig Millionen Jahre überlebt – Kometen- und Meteoriten-Einschläge, plötzliche Vergletscherungen, Änderungen des Meeresspiegels, tektonische Auffaltungen und Konkurrenz von aufeinander folgenden Tierreichen.
Und nach dieser ganzen Zeit hatten sie immer noch die Fähigkeit zu evolutionären Neuerungen. Die erste Zeit nach dem Kometeneinschlag waren die dominierenden Räuber an den Wasserläufen Verwandte der Krokodile mit langen Beinen und hufartigen Klauen gewesen. Sie waren ein Albtraum gewesen, schnelle Krokodile, die imstande gewesen waren, Tiere bis zur Größe kleiner Pferde zu jagen. Die Krokodile hatten sich sogar an die Lebensbedingungen hier am Pol angepasst, wo die Sonne monatelang nicht schien; sie verschliefen den Winter einfach.
Im Gegensatz zu den Dinosauriern und den Plesiosauriern wurden die Krokodile nicht von aufstrebenden Säugetieren aus ihren Süßwasser-Nischen vertrieben: weder jetzt noch in Zukunft.
Noth hatte den Meso-Kadaver verloren, aber die Stelle, wo er gelegen hatte, war mit Fleischfetzen und zerdrückten Maden bedeckt. Hungrig leckte er über den gefrorenen Boden.
Schließlich kam der Tag der Paarung.
Die Weibchen der Sippe versammelten sich in den Ästen einer großen Konifere. Sie aßen erste Früchte und führten dem Körper die Nährstoffe zu, die sie brauchten, um den Anstrengungen der Mutterschaft gewachsen zu sein. Die Weibchen wurden unauffällig von den Älteren angeleitet, darunter auch Groß und Größte. Rechts war ebenfalls bei ihnen. Sie hatte ihren ersten Winter überlebt. Sie nahm schnell an Gewicht zu, und als sie das zottige Winterfell abgeschüttelt hatte, entpuppte sie sich als eine kleine, aber gut gebaute Erwachsene, die zur Paarung bereit war.
Der Kaiser weilte in seinem Harem. Tapfer humpelnd ging er von einer zur andern, um sie zu besteigen. Größte hatte ihn schon zweimal rangelassen, und Rechts hatte er auch schon entjungfert, ohne dass sie sich ihm widersetzt hätte. Nun nahm er Groß. Sie hatte sich an einen tiefen Ast geklammert und vornüber gebeugt. Den Kopf hatte sie zwischen die Knie und den Schwanz in die Höhe gestreckt. Der Kaiser war hinter ihr. Er hatte ihr die Arme um die Taille geschlungen und stieß sie mit einem Tempo, aus dem Erschöpfung und Dringlichkeit sprachen.
Dies war der Tag, auf den der Kaiser das ganze Jahr hingearbeitet hatte; und nun war die Zeit gekommen, da er seine ganze Autorität und Energie in die Waagschale warf, um so viele Weibchen wie möglich zu decken.
Doch der Kaiser drohte schon schlappzumachen. Dabei war dieser Harem nur einer von mehreren im großen Territorium, über das er herrschte.
An diesem Ort, der so stark jahreszeitlichen Einflüssen unterworfen war, musste die Aufzucht der Jungen in einem sehr kurzen Zeitraum erfolgen. Deshalb wurde Nachwuchs gezeugt, wenn reichlich Nahrung vorhanden war und die werdenden Mütter genug Futter bekamen, um genügend Milch zu produzieren. Einem Weibchen, das sich außerhalb der Paarungszeit paarte, wäre es kaum vergönnt zu erleben, wie sein Nachwuchs den Eintritt ins Erwachsenenalter erlebte. Und ein Männchen, das die Gelegenheit verpasste, sich mit einem fruchtbaren Weibchen zu paaren, würde ein ganzes Jahr der Entbehrungen, Gefahren und des Mangels aushalten müssen, ehe es eine neue Chance bekam.
Für die Notharctus dauerte die Paarungszeit gerade einmal achtundvierzig Stunden. Und in dieser kurzen Zeit ging der Punk ab.
An diesen beiden Tagen, beim gleichzeitigen Eisprung aller Weibchen, war die Luft mit einer Pheromonwolke geschwängert und überall wimmelte es von Männchen, die einem schier unwiderstehlichen Drang folgten. Erektionen stachen aus dem Fell. Die Männchen hatten sich seit der Rückkehr der Sonne auf diesen Moment vorbereitet. Sie hatten ordentlich gefressen, um sich zu stärken, hatten spektakuläre Sprünge vollführt und Scheinkämpfe geführt – wie Athleten, die sich auf ein Turnier vorbereiteten. Der Kaiser vermochte sie sich unmöglich alle vom Leib zu halten, und die Konkurrenz wurde immer stärker. Heute stand die Hierarchie der Männchen auf der Kippe.
Der Stress für die Weibchen würde später kommen, bei der Schwangerschaft, wenn die schnell wachsenden Föten, und beim Stillen, wenn die Neugeborenen es der Mutter permanent abverlangten, energiereiche Nahrung zu suchen – und das zu einer Zeit, wo fast jedes ausgewachsene Weibchen stillte. Es war der hohe Preis der Reproduktion, der zur generellen Dominanz der Weibchen über die Männchen geführt hatte, und das war auch der Grund, weshalb die Weibchen immer das beste Futter bekamen.
Im ganzen Wald war es das Gleiche. Bei den Notharctus-Sippen fand die Paarungszeit gleichzeitig statt, wobei der Zeitpunkt von den chemischen Düften bestimmt wurde, die die Luft kilometerweit durchzogen. An den beiden Tagen war der Wald eine einzige Orgie, erfüllt vom Kreischen kämpfender Männchen, mit pheromongeladenen Weibchen und von heftigem Rammeln.
Noth verfolgte ein anderes junges Männchen, das er sich als Rivale vorstellte, und schnellte sich durch ein lichtes Koniferenwäldchen. Mit einem Arm schwang er an den dürren Ästen. Bei jedem Abschwung kam die Erde wie eine riesige Schüssel auf ihn zu, und totes Laub, frischer grüner Farn und die unansehnlichen Gestalten schnüffelnder Bodenbewohner stoben unter ihm davon.
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