Streuner fand eine Palmnuss. Sie setzte sich auf einen Ast und inspizierte sie. Eine dicke grüne Raupe kroch über die Schale. Sie leckte die Raupe ab und kaute sie genüsslich.
Die Horde brach geräuschvoll durch die Baumwipfel um sie herum. Auch wenn sie allein war, wusste sie genau, wo die anderen alle steckten. In den langen Jahren seit Noths Zeit hatte die soziale Struktur der Primaten sich stetig weiter entwickelt: Für die Anthros waren ihre Artgenossen nunmehr interessanter als tote Gegenstände – sie waren die interessantesten Objekte in der Welt. Streuner war sich der übrigen Horde so bewusst, als ob sie wie eine Lampion-Reihe in den Baumkronen aufgehängt wäre und den Rest der Welt zu einem amorphen Grau verdunkelte.
Streuner gehörte keiner der Spezies an, die jemals von Menschen katalogisiert werden würde. Sie sah aus wie ein Kapuzineräffchen, der ›Leierkasten spielende‹ Affe, der eines Tages die Wälder Südafrikas durchstreifen würde, und hatte auch in etwa seine Größe. Sie wog nur ein paar Kilogramm und hatte ein dichtes schwarzes Fell mit weißen Zeichnungen an Schultern, Hals und im Gesicht, womit sie eben an einen Kapuzinermönch erinnerte. Arme und Beine waren gelenkig und symmetrisch, ganz im Gegensatz zu Noth: Dieser Körper-Bauplan war typisch für die Bewohner offener Baumkronen. Die Nase war flach und hatte kleine, seitlich ausgestellte Nasenlöcher, die für die Affen des späteren Südamerika typisch waren und nicht für die afrikanischen.
Sie sah aus wie ein Affe. Aber sie war kein Affe: Als entfernter Nachfahr von Noths Adapiden gehörte ihre Art zu einem Primatentyp mit der Bezeichnung Anthropoiden, den Vorläufern der Affen und Menschenaffen – diese große Aufspaltung in der Familie der Primaten sollte erst noch stattfinden.
Fast zwanzig Millionen Jahre nach dem Tod von Noth waren die Kämm-Krallen der Notharctus-Füße bei Streuner durch Fußnägel ersetzt worden. Sie hatte kleinere Augen als Noth und wegen der kürzeren Schnauze ein weites räumliches Blickfeld – und die Augen wurden durch eine feste Knochenhöhle geschützt. Noths Augen waren nur durch einen Knochenring geschützt worden, und seine Sicht wurde beim Kauen sogar durch die Backenmuskeln beeinträchtigt. Außerdem hatte Streuner viele der alten Nachtjagd-Merkmale verloren, über die Noth noch verfügt hatte. Der Sinnes-Schwerpunkt hatte sich vom Geruch zum Sehen verschoben.
Aus Rechts’ Enkeln war eine große Armee hervorgegangen. Sie hatte sich über die Alte Welt ausgebreitet und die dichten tropischen Wälder Asiens und Afrikas besiedelt. Auf der Wanderschaft hatten sie sich weiterentwickelt, diversifiziert und verändert. Die Linie der Anthropoiden aus der Alten Welt sollte jedoch mit Streuner abbrechen. Streuner konnte nicht wissen, dass sie ihre Mutter nie mehr wieder sehen sollte – und ihr Schicksal war weitaus seltsamer als alles, was ihre unmittelbaren Vorfahren erlebt hatten.
Durch das weiß gefleckte Fell wirkte Streuners Gesicht skizzenhaft, unfertig und irgendwie wehmütig. Aber sie hatte eine jugendliche Schönheit. Sie war drei Jahre alt und damit noch ein Jahr von der Menarche entfernt. Sie hatte den unabhängigen Geist einer jungen Frau und war noch nicht voll in die Hierarchien und Bündnisse der Horde integriert. Vielmehr wirkten bei ihr noch die solitären Instinkte der entfernten Vorfahren. Sie blieb gern für sich. Zumal die Gruppe im Moment keine sehr angenehme Gesellschaft war.
Die letzten paar Jahre waren eine Zeit des Überflusses gewesen, und die Horde hatte sich zahlenmäßig vergrößert. Ein Baby-Boom hatte stattgefunden, aus dem auch Streuner hervorgegangen war. Allerdings brachte das Wachstum auch Probleme mit sich. Einmal herrschte eine harte Konkurrenz um Nahrung. Jeden Tag gab es Streitigkeiten.
Und dann war da das Kämmen. In einer kleinen Gruppe war genug Zeit, um alle zu kämmen. Das unterstützte die Pflege von Beziehungen und die Festigung von Allianzen. Wurde die Gruppe jedoch zu groß, war dafür einfach keine Zeit mehr. Also bildeten sich Cliquen und Untergruppen heraus, wo man gegenseitige Fellpflege betrieb und die anderen ignorierte. Ein paar Cliquen gingen sogar schon tagsüber eigene Wege und kamen nur noch zum Schlafen zurück.
Irgendwann würde es die Gruppe zerreißen. Die Cliquen würden sich absondern, und die Gruppe würde sich auflösen. Jedoch mussten die neuen, kleineren Gruppen groß genug sein, um sich vor Räubern zu schützen – was auch der eigentliche Grund war, weshalb es am Tag überhaupt zur Gruppenbildung kam –, sodass es noch eine lange Zeit, vielleicht sogar Jahre dauern würde, bis eine Abspaltung vollzogen war. Das geschah allenthalben. Es war eine zwangsläufige Folge der wachsenden Primatengemeinschaften. Und es hatte ständige Reibereien zur Folge.
Deshalb war Streuner froh, dem ganzen Hickhack für eine Weile zu entrinnen.
Nachdem der Käfer gründlich zerkaut war, untersuchte Streuner die Palmnuss. Sie wusste, dass der Kern eine Delikatesse war, aber ihre Hände und Zähne waren zu schwach, um die Schale aufzubrechen. Also schlug sie die Schale gegen den Ast.
Dann wurde sie sich zweier heller Augen bewusst, die sie beobachteten. Sie gehörten einer schlanken rostroten Gestalt, die sich an einen Ast klammerte. Sie machte sich aber keine Sorgen. Das Männchen gehörte zu einem Primatentyp, der eng mit Streuners Art verwandt war. Er war jedoch kleiner, schlanker – und nicht annähernd so intelligent. Hinter ihm machte Streuner noch mehr Exemplare dieser Art aus, die sich an die Äste dieses und des nächsten Baums geklammert hatten und wie eine Kette sich durch die grün illuminierte Welt des Waldes zogen. Der Fremde wollte Streuner die Nuss nicht streitig machen und stellte schon gar keine Bedrohung für sie dar; der kleine Primat hatte es nur auf Streuners Reste abgesehen.
Streuner ernährte sich hauptsächlich von Früchten. Doch die Rostroten fraßen – wie ihre Adapiden-Vorfahren – vorwiegend Raupen und Insekten, die sie von den Ästen klaubten, und sie hatten spitze kleine Zähne, um die erbeuteten Insekten zu zerkleinern. Sie lebten in dichten mobilen Kolonien mit fünfzig und mehr Tieren. Dies bot ihnen Schutz gegen Räuber und andere Primaten: Selbst eine Rotte Anthros hätte Schwierigkeiten gehabt, sich einer dieser flinken, koordinierten Horden zu erwehren.
Streuner war jedoch viel intelligenter als jeder von diesen Roten.
Es würde noch ein paar Dutzend Jahrmillionen dauern, bis ein Primat etwas benutzte, das man als Werkzeug im eigentlichen Sinn zu bezeichnen vermochte. Streuners Intelligenz war weitgehend spezialisiert und dahingehend ausgeprägt, dass sie die Wechselfälle ihres Soziallebens zu bewältigen vermochte. Dennoch war Streuner intelligent genug, um die nähere Umwelt zu begreifen und sie so zu manipulieren, dass sie bekam, was sie wollte. Eine Nuss gegen einen Baum zu schlagen war kaum fortgeschrittene Technik, aber sie war trotzdem gefordert, ein paar Schritte voraus zu denken – der Ansatz eines viel größeren Einfallsreichtums, der erst nach langer Zeit zum Tragen kommen sollte. Und dieses Nussknacken war ein kognitiver Sprung, durch den die Roten ins Hintertreffen geraten waren. Was auch der Grund dafür war, dass sie sich hier versammelt hatten.
Streuner hörte ein Rascheln tief unter sich. Sie hielt sich am Ast fest und lugte ins grüne Zwielicht.
Sie sah die Pflanzenreste auf dem Waldboden und eine schemenhafte Gestalt, die mit raschelnden Federn und am Boden pickend zwischen den Bäumen hindurch lief. Es war ein flügelloser Vogel in der Art eines Kasuars. Und als sie den Weg zurückverfolgte, den der Vogel bis zur Mitte der Lichtung genommen hatte, erkannte Streuner etwas matt glänzendes Rundes.
Eier. Es waren zehn Stück, die im nachlässig gebauten Vogelnest lagen. Ihr Eidotter war so groß wie Streuners Kopf. In der Mittagsruhe und in Abwesenheit des Gefährten hatte der Vogel das Nest kurz unbeaufsichtigt gelassen und darauf gehofft, dass es unversehrt bliebe, während er seinen Hunger stillte. Er hatte aber das Pech, dass Streuners scharfe Augen das Nest so schnell entdeckten.
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