Für Weißblut war es eine ganz logische Situation. Doch für Streuner war es ein Albtraum.
Plötzlich schwangen sie sich rasant von Baum zu Baum und rannten über Äste. Weißblut hielt sie am Nackenfell fest. Ihr Gewicht schien ihn kaum zu bremsen. Streuner hatte noch nie so große Sprünge und weite Sätze gemacht: Ihre Mutter und die anderen Weibchen, die ohnehin sesshafter waren als die Männchen, hatten sich viel vorsichtiger bewegt. Und sie wurde über eine große Entfernung transportiert; sie roch lehmiges Wasser, als sie sich dem Flussufer näherten.
Und derweil prasselte der Regen hernieder, schoss durch die Blätter und verwandelte die Luft in einen trüben grauen Dunst. Ihr Fell war klitschnass, und Wasser rann ihr in die Augen und nahm ihr die Sicht. Tief unter ihnen floss Wasser über den aufgeweichten Boden – Rinnsale vereinigten sich zu Bächen, die rotbraunen Schlamm in den ohnehin schon angeschwollenen Fluss eintrugen. Es war, als ob Wald und Fluss miteinander verschmolzen und durch die Wucht des Sturms eins würden.
Ihre Panik verstärkte sich, und sie versuchte sich aus Weißbluts Griff zu befreien. Dabei handelte sie sich aber nur so harte Schläge auf den Hinterkopf ein, dass sie quiekte.
Schließlich erreichten sie Weißbluts Territorium. Der Großteil der Sippe, Männchen, Weibchen und Junge hatten sich auf einem einzigen Baum versammelt, einem niedrigen ausladenden Mango. Sie saßen wie Häufchen nassen Elends nebeneinander auf den Ästen. Als die Männchen aber sahen, was Weißblut da angebracht hatte, stießen sie Rufe aus und schlugen auf die Äste.
Weißblut warf Streuner achtlos in eine Gruppe Weibchen. Ein Weibchen betatschte Streuners Gesicht, Bauch und Genitalien. Streuner schlug ihre Hand weg und kreischte empört. Doch das Weibchen ließ sich davon nicht abhalten, und nun scharten sich noch weitere um sie und wollten die Neue in Augenschein nehmen. Diese Neugier war eine Mischung aus der üblichen Faszination der Anthros für alles Neue und eine Art Rivalität gegenüber diesem potenziellen Konkurrenten, einem neuen Rekruten in den ständig wechselnden Hierarchien.
Streuner war total verwirrt: durch die Blitze, die durch den purpurnen Himmel zuckten, den Regen, der ihr ins Gesicht prasselte, das Tosen des Wassers unter ihr, das durchnässte Fell und den ungewohnten Gestank der Weibchen und Jungen um sie herum. Die offenen rosigen Münder und tastenden Finger, die sie bedrängten, gaben ihr den Rest. Sie unternahm einen Fluchtversuch, machte einen Satz und baumelte kurz über dem Ast.
Und sie erblickte etwas Fremdartiges.
Zwei Indricotheria standen unter dem Baum. Diese großen Kreaturen mit der dreifachen Masse eines ausgewachsenen Elefanten waren eine Art ungehörntes Rhinozeros. Sie hatten lange, giraffenartige Beine und Hälse und eine elefantenartige Haut. Sie waren von einer gravitätischen Anmut und hatten wegen ihrer Größe keine natürlichen Feinde. Nun hoben sie die pferdeartigen Gesichter auf den dicken Hälsen und fraßen die nassen Blätter vom Baum ab.
Aber sie waren dennoch in Gefahr. Schlammiges Wasser strömte über den Erdboden und umspülte die Beine der Indricotheria, als ob der Baum und die Tiere selbst in einem Fluss stünden.
Schließlich brach in unmittelbarer Nähe der flachen Baumwurzeln eine lehmige Erdschicht vom Flussufer ab und glitt ins Wasser. Ein mächtiges Indricotherium trompetete und scharrte mit den elefantenartigen Füßen auf einem Boden, der sich plötzlich in einen rutschigen, tückischen Abhang verwandelt hatte – und dann ging es mit verdrehtem Hals und peitschendem Schwanz abwärts. Fünfzehn Tonnen Fleisch flogen durch die Luft. Es fiel mit einem lauten Platschen ins Wasser und war im nächsten Moment verschwunden, mitgerissen vom alles verschlingenden Fluss.
Das zweite Indricotherium stieß ein trauriges Trompeten aus. Es war selbst in Bedrängnis, denn der Boden löste sich schon unter dem anbrandenden Wasser auf, und das Tier brachte sich stolpernd in Sicherheit.
Und dann geriet der Baum selbst in Gefahr. Die Wurzeln waren durch die plötzliche Überschwemmung freigelegt worden und hatten durch die Wucht, mit der der Fluss gegen das Ufer anbrandete, weiter an Halt verloren. Der Baum knarrte und erzitterte.
Und dann gaben die Wurzeln mit einem salvenartigen explosiven Krachen nach. Der Baum neigte sich dem Wasser entgegen. Wie Obst von einem geschüttelten Ast fielen Primaten in allen Größen vom Baum und stürzten schreiend ins schäumende Wasser.
Streuner klammerte sich heulend am Ast fest, als der Baum wie in einem Albtraum in den Fluss kippte.
Die ersten Minuten waren die schlimmsten.
In Ufernähe waren die Turbulenzen am stärksten, weil das Wasser zwischen der starken Strömung und der Reibung mit dem Land hin und her gerissen wurde. In diesem mächtigen Strudel war selbst der große Mangobaum nicht mehr als ein Zweig, der in einen Bach geworfen wurde. Er bäumte sich auf, knarrte und verwand sich. Erst fiel das Laub ins Wasser, und dann richteten die Wurzeln, deren Zwischenräume mit Schlamm und Geröll verstopft waren, sich wie eine Klaue gen Himmel. Streuner wurde durch die Luft geschleudert und fiel in schmutzigbraunes Wasser, das ihr in Mund und Nase drang. Dann kam sie wieder an die Wasseroberfläche.
Schließlich löste der Baum sich vom Chaos in der Nähe des Ufers und trieb in die Flussmitte, wo es schnell ruhiger wurde.
Streuner wurde wieder unter Wasser gedrückt. Durch das trübe Wasser schaute sie zu einer schimmernden Oberfläche hinauf, auf der Blätter und Zweige trieben. Mund und Hals füllten sich mit Wasser, und Panik überkam sie. Mit einem erstickten Schrei stieg sie durchs Blättergewirr dem Licht entgegen.
Sie brach durch die Wasseroberfläche. Licht, Lärm und der heftige Regen brandeten gegen ihre Sinne an. Sie zog sich aus dem Wasser und legte sich flach auf einen Ast.
Der Baum trieb mit der Krone voran flussabwärts. Das verrippte Wurzelgeflecht griff nach dem dräuenden, von Blitzen durchzuckten Himmel aus. Streuner hob den Kopf und hielt Ausschau nach den anderen Anthros. Es war nicht leicht, sie in der dunstigen Luft und im strömenden Regen auszumachen, so zerrupft und durchnässt wie sie waren. Aber sie erkannte Weißblut, das kräftige Männchen, das sie entführt hatte, zwei weitere Männchen und ein Weibchen mit einem Jungen, das sich irgendwie an ihrem Rücken festhielt – ein kleines, klitschnasses Fellbündel.
Obwohl sie noch genauso zerschlagen und halb ertrunken war wie zuvor, fühlte Streuner sich plötzlich besser. Wäre sie ganz allein gewesen, hätte sie sehr darunter gelitten; die Anwesenheit der anderen war tröstlich für sie. Dennoch gehörten diese anderen nicht zu ihrer Familie, nicht zu ihrer Sippe.
Es trieb noch mehr Vegetation im Wasser. Sie sammelte sich in der Mitte, wo der Fluss am tiefsten war. Da waren Bäume und Büsche, die zum Teil schon am Oberlauf des Kongo mitgerissen worden waren, tausende Kilometer entfernt in einem ganz anderen Land in der Mitte des Kontinents. Es waren auch Tiere dabei. Ein paar klammerten sich an die Äste wie die Anthros. Sie sah die zappelnden Leiber eines Pärchens der Rostroten und sogar einen Dickbauch, der auf einem Walnuss-Baum hockte. Der Dickbauch, ein Weibchen, hatte es sich gemütlich gemacht und ließ sich auch durch den Regen nicht die Laune verderben. Sie war schon wieder in ihre Gewohnheit verfallen, ständig Laub zu mampfen und brauchte nur noch zuzugreifen.
Aber nicht alle Tiere hatten die Reise in dieser Arche des Schreckens lebend überstanden. Eine ganze Familie dicker, schweineartiger Anthracotheria war ertrunken und steckte wie fleischige Früchte zwischen den Ästen einer zerbrochenen Palme. Und da war auch das Indricotherium, das vor der Entwurzelung des Mangos in den Fluss gestürzt war. Der Kadaver trieb mit wackelndem Hals und gespreizten Beinen im Wasser – auf ein Stück Treibgut reduziert wie die anderen.
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