Als der Fluss sich verbreiterte, wurde dieses Treibgut von den turbulenten Strömungen zu einer Art Floß aus Baumkronen und Wurzeln zusammen geschoben. Die Tiere starrten sich und den Fluss an, während ihr schwimmender Untersatz immer weiter trieb.
Streuner sah den dichten grünen Wald, der das flache Flussufer aus erodiertem Sandstein säumte. Die Bäume waren Mangobäume, Palmen und eine Art Bananenstauden. Äste hingen tief übers Wasser, und Lianen und Ranken schlängelten sich über die überwucherten Terrassen. Sie hielt Ausschau nach einem Ast, an dem sie sich emporzuschwingen und von hier zu entkommen vermochte. Aber sie war durch den reißenden Fluss vom Wald getrennt, und je länger das Pflanzen-Floß flussabwärts trieb, desto weiter traten diese verlockenden Ufer auseinander, und der vertraute Wald wich schließlich den Mangroven, die die Küstenregion dominierten.
Und der Regen wollte einfach nicht nachlassen. Er wurde sogar noch stärker. Schwere Tropfen fielen vom bleiernen Himmel und schlugen im Wasser Krater, die im Moment ihrer Entstehung auch schon wieder verschwanden. Ein weißes Rauschen dröhnte ihr in den Ohren, sodass sie das Gefühl hatte, in einer riesigen Blase aus Wasser eingeschlossen zu sein – Wasser unter sich und um sich herum – und nur diesen entwurzelten Mangobaum hatte, an dem sie sich festzuhalten vermochte. Stöhnend und ausgekühlt verschwand Streuner zwischen den Ästen des Mangobaums und kauerte sich dort einsam und allein zusammen. Sie wartete darauf, dass dieser Albtraum endlich verschwand und sie wieder in die ihr vertraute Welt mit Bäumen, Früchten und Anthros zurückversetzt wurde.
Das sollte jedoch nie geschehen.
Das Unwetter, so heftig es gewesen war, flaute rasch ab. Streuner sah fingerdünne Lichtstangen in den Blätter-Verhau dringen. Das Prasseln des Regens war verstummt und dem unheimlichen leisen Plätschern des Flusses gewichen.
Sie kroch zwischen den Ästen hervor und kletterte auf die Oberseite des Baums. Die Sonne war stark, als ob die Luft gereinigt worden wäre, und sie spürte, wie die Wärme tief ins Fell eindrang und es schnell trocknete. Für einen Moment genoss sie die Wärme und Trockenheit.
Jedoch gab es hier keinen Wald mehr: nur diesen Baum und seine entwurzelten Begleiter, die auf der graubraunen Wasseroberfläche trieben. Die Flussufer waren auch nicht mehr zu sehen. Ihr Blick ging bis zu einem messerscharfen Horizont – und sonst war der Baum nur von Wasser umgeben. Als sie den Weg zurückverfolgte, den das Floß genommen hatte, machte sie Land aus: eine grün-braune Linie, die den östlichen Horizont säumte.
Eine Linie, die zurückwich.
Das Pflanzen-Floß war ins Meer gespült worden, hinaus in den weiten Atlantik – mitsamt der Fracht aus Anthros, dem Dickbauch, den Rostroten und allen anderen.
Nach den Tagen von Noth hatte die Geometrie der rastlosen Welt sich stetig verändert und bestimmte weiterhin das Schicksal der Kreaturen, die die auseinanderdriftenden Kontinente bevölkerten.
Die beiden großen Risse, die den Untergang von Pangäa eingeleitet hatten – das ost-westliche Tethys-Meer und der nord-südliche Atlantik – schlossen respektive erweiterten sich. Afrika war auf Kollisionskurs mit Europa, derweil Indien nordwärts driftete und Asien rammte, wodurch der Himalaya aufgefaltet wurde. Doch die Berge waren kaum entstanden, als der Regen und die Gletscher sich ans Werk machten und das Gebirge durch Aushöhlung und Erosion wieder ins Meer spülten: Auf diesem turbulenten Planeten floss Gestein wie Wasser, und Gebirgszüge wurden traumgleich aufgefaltet und abgetragen. Die sich vereinigenden Kontinente schnürten den paradiesischen Fluss von Tethys ab. Reste dieses riesigen Meeres haben sich als Schwarzes und Kaspisches Meer sowie Aral-See und Mittelmeer in die Neuzeit hinübergerettet.
Als Tethys versiegte, setzte eine Dürre am Äquator ein. Einst hatte es Mangrovenwälder in der Sahara gegeben. Nun spannte sich im alten Bett von Tethys eine Halbwüsten-Vegetationszone um Nordamerika, das südliche Eurasien und das nördliche Afrika.
Inzwischen zerbrach auch die große Landbrücke, die den nördlichen Atlantik abgetrennt und von Nordamerika über Grönland und Großbritannien nach Nordeuropa sich erstreckt hatte. Nun ging der Atlantik ins Polarmeer über. Als die alte Ost-West-Passage geschlossen wurde, öffnete sich ein neuer Kanal von Süden nach Norden.
So änderten sich auch die Meeresströmungen.
Die Meere waren riesige Energiereservoirs – unruhig, instabil und ständig in Bewegung. Und die Meere wurden von Strömungen durchzogen, unsichtbaren Flüssen, gegen die jeder Fluss an Land ein bloßes Rinnsal war. Die Strömungen wurden durch die Sonnenwärme und die Erddrehung erzeugt; in den oberen paar Metern der Weltmeere war mehr Energie gespeichert als in der gesamten Atmosphäre.
Nun wurden die mächtigen äquatorialen Strömungen, die einst im Tethys-Meer vorgeherrscht hatten, unterbrochen. Zugleich prägten sich auch schon die Strömungen aus, die den sich verbreiternden Atlantik dominieren würden: ein Vorläufer des Golfstroms, ein mächtiger Fluss mit einer Breite von sechzig Kilometern und der dreihundertfachen Strömungsenergie des Amazonas floss von Süden nach Norden.
Diese Änderung der Zirkulationsmuster wirkte sich auch auf das Klima des Planeten aus. Die Äquatorialströmungen bewirkten nämlich eine Erwärmung, die interpolaren Nord-Süd-Strömungen hingegen eine Abkühlung der Erde.
Und zu allem Überfluss hatte Antarktika sich über den Südpol geschoben und wurde zum ersten Mal seit zweihundert Millionen Jahren von einer Eiskappe bedeckt. Gewaltige kalte, polare Meeresströmungen entstanden in den südlichen Gewässern und speisten die großen, nordwärts gerichteten Strömungen des Atlantiks.
Es hatte ein Paradigmenwechsel stattgefunden – der Beginn einer starken planetaren Abkühlung, die sich bis ins Zeitalter der Menschen und darüber hinaus fortsetzen sollte.
Auf dem ganzen Planeten zogen die alten Klimagürtel sich zum Äquator zurück. Tropische Vegetation überlebte nur in den Äquatorialbreiten. Im Norden erschien eine neue Art von Ökologie, eine gemäßigte Zone mit Mischwald aus Koniferen und Laubbäumen. Dieser Bereich bedeckte einen Teil der nördlichen Regionen und erstreckte sich von den Tropen über Nordamerika, Europa und Asien bis zur Arktis.
Der klimatische Kollaps löste ein neues Artensterben aus, das Paläobiologen später als den ›Großen Schnitt‹ bezeichneten. Es war ein lang anhaltendes, multiples Ereignis. In den Meeren wurde die Plankton-Population wiederholt dezimiert. Viele Gastropoden- und Muschelarten verschwanden.
Und an Land wurden die Säugetiere nach einer dreißig Millionen Jahre währenden Erfolgsgeschichte vom ersten Massensterben heimgesucht. Die Säugetierpopulation wurde um die Hälfte reduziert. Die exotischen Spezies aus Noths Tagen wurden dahingerafft. Dafür entwickelten sich neue, größere Pflanzenfresser mit kräftigen Mahlzähnen, die die grobe Vegetation zu zerkleinern vermochten, die für das jahreszeitlich geprägte Waldland typisch war. Zu Streuners Zeit durchstreiften bereits die ersten, mit Rüsseln und Stoßzähnen ausgestatteten Proboscidea die afrikanischen Ebenen. Mit dem Rüssel, dem an Flexibilität nur der Arm eines Tintenfischs gleichkam, stopfte das Tier sich die großen Futtermengen ins Maul, die es benötigte. Diese Deinotheria hatten kurze Rüssel und seltsam nach unten gebogene Stoßzähne, mit denen sie die Rinde von den Bäumen schälten. Im Gegensatz zu ihrem Vorfahren, dem Moeritherium, sahen sie aber aus wie Elefanten und wuchsen auch bald zur Größe der späteren afrikanischen Elefanten heran.
Und in dieser Zeit machten auch die Pferde einen großen Sprung. Die Nachkommen der ängstlichen Geschöpfe in Noths Wald hatten sich in viele Arten ausdifferenziert, die als Pflanzenfresser im Waldland lebten. Sie waren zum Teil so groß wie Gazellen und hatten kräftigere Zähne als ihre Vorfahren, sodass sie nun auch Blätter und nicht mehr nur weiche Früchte zu fressen vermochten. Eine andere Richtung waren Tiere mit längeren Beinen, die sich auf Gras als Nahrung spezialisierten. Die meisten Pferde hatten drei Zehen an Vorder- und Hinterfüßen, wobei die in der Ebene lebenden Läufer jedoch schon die seitlichen Zehen verloren und das ganze Gewicht auf den mittleren Zeh verlagerten. Doch in dem Maß, wie der Wald schrumpfte, verringerte sich auch seine Vielfalt, und bald würden viele Wald-Spezies verschwinden. Die Nagetiere diversifizierten sich mit dem Erscheinen der ersten Ziesel, Biber, Haselmäuse, Hamster und Eichhörnchen – und den ersten Ratten.
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