Jeder Borametz war der Mittelpunkt einer symbiotischen Gemeinschaft von Insekten und Tieren.
Symbiose zwischen Pflanzen und anderen Organismen war uralt: Die blühenden Pflanzen und die sozialen Insekten hatten sich quasi Hand in Hand entwickelt, wobei die einen die Bedürfnisse der jeweils anderen erfüllten. Und es waren die sozialen Insekten, die Ameisen und Termiten, die als Erste von den reproduktiven Strategien der neuen Baum-Art kooptiert worden waren.
Jede Symbiose war eine Art von Geschäft. Die Pfleger, ob Insekten oder Säugetiere, lösten die Samen der Borametz-Bäume vom Stamm oberhalb der Wurzeln ab, aber sie verzehrten sie nicht, sondern lagerten sie ein. Und wenn die Bedingungen günstig waren, transportierten sie sie zu einem Ort, der zur Bepflanzung geeignet war – in der Regel an der Peripherie eines schon existierenden Hains, wo es kaum Konkurrenz durch etablierte Bäume oder Gräser gab. Und so wuchs der Wald. Als Lohn für ihre Mühen bekamen die Pfleger Wasser: Wasser, das die außergewöhnlich langen Wurzeln des Borametz selbst in den trockensten Gebieten aus tiefen Grundwasserschichten heraufholten.
Es war für die Maulwurf-Leute mit ihrer kooperativen Gesellschaft und den noch immer beweglichen Primaten-Händen und Gehirnen nicht schwer gewesen, die Termiten und Ameisen zu imitieren und die Borametz-Bäume selbst zu hegen. Zumal sie wegen ihrer größeren Körper auch ein größeres Gewicht zu tragen vermochten als Insekten, was die Entwicklung neuer Borametz-Arten mit größeren Samen zur Folge gehabt hatte.
Für den Borametz war es eine Frage der Effizienz. Der Borametz musste viel weniger Energie in jeden erfolgreichen Setzling investieren als seine Konkurrenten. Also war es eine reproduktive Strategie, die dem Borametz das Überleben ermöglichte, wo andere Spezies keinen Erfolg hatten. Und während ihre Pfleger die Samen fleißig von den Gärten auf die Wiese hinaustrugen, breiteten die Borametz-Arten sich sogar im Grasland aus. Schließlich – über fünfzig Millionen Jahre nach dem Triumph der Gräser –, gelang den Bäumen die Revanche.
Die Borametz-Bäume verkörperten die erste pflanzliche Revolution, seit die blühenden Pflanzen in den Tagen vor Chicxulub aufgekommen waren. Und in den kommenden Zeitaltern sollte diese neue pflanzliche Revolution – wie schon das Erscheinen der ersten Pflanzen an Land es den Tieren ermöglicht hatte, das Meer zu verlassen, wie die Evolution der blühenden Pflanzen, wie der Aufstieg der Gräser – durchgreifende Auswirkungen auf alle Lebensformen haben.
Während Erinnerung noch immer außer Atem auf dem Boden saß und dem merkwürdige Treiben der Maulwurf-Leute zuschaute, hörte sie allzu bekannte schleichende Schritte und einen schrecklich zischenden Atem. Sie drehte langsam den Kopf, um sich nicht zu verraten.
Es war der junge Maus-Raptor, derselbe, der seine Herde von Elefanten-Leuten verlassen hatte, um sie zu jagen. Er stand über einer Reihe von Maulwurf-Leuten, die zwischen dem Baum und der Pflanzung hin und her huschten und sich der Gefahr nicht bewusst waren, in der sie schwebten.
Es war, als ob der Raptor Rache übte. Nur ein paar Nagetiere vermochten die dicke Schale der Borametz-Nüsse zu knacken. Je weiter der Borametz sich verbreitete, desto stärker waren die Samen fressenden Arten, denen dieser Raptor entsprungen war – zusammen mit Vögeln und anderen Spezies –, von einem schwindenden Nahrungsangebot, von schrumpfenden Revieren und in manchen Fällen sogar vom Aussterben bedroht.
Der Raptor traf seine Wahl. Er bückte sich, wobei er sich mit dem langen Schwanz abstützte, und schnappte sich eine verwirrte Maulwurfs-Frau. Der Raptor drehte sie auf den Rücken und strich ihr fast zärtlich über den Bauch.
Die Maulwurfs-Frau wehrte sich schwach. Zum ersten Mal in ihrem Leben war sie von der Kolonie abgeschnitten und vom subtilen sozialen Druck befreit. Es war, als ob sie plötzlich aus einem Meer aus Blut und Milch an die Oberfläche gestiegen wäre, und sie verspürte kreatürliche Angst – zum ersten und auch zum letzten Mal. Dann stieß der Kopf des Raptors herab.
Ihre Kameraden eilten an den Füßen des Killers vorbei, ohne dass der Fluss merklich unterbrochen worden wäre.
Der Maus-Raptor drehte sich um. Die kleinen Ohren zuckten. Und er starrte direkt auf Erinnerung.
Ohne zu zögern stürzte sie sich wieder ins Loch im Boden.
Erinnerung blieb noch für ein paar Tage in der Speisekammer. Aber sie vermochte sich nicht mehr im stickigen Mief einzurichten, der sie umgeben hatte.
Am Ende war es der Wahnsinn der Maulwurf-Leute, der sie vertrieb.
Selbst für dieses trockene Gebiet war der Sommer sehr trocken gewesen. Die Suche nach den Knollen und Wurzeln, von denen die Maulwurf-Leute lebten, gestaltete sich immer schwieriger. Die Vorräte in der Kammer schwanden dahin und wurden der Not gehorchend durch andere Pflanzen ersetzt, wie die violetten Blätter der Kupferblumen. Diese Nahrung enthielt jedoch Giftstoffe, die sich im Blutkreislauf der Maulwurf-Leute akkumulierten.
Schließlich brach alles zusammen.
Wieder wurde Erinnerung von Maulwurf-Leuten geweckt, die durch die fast leere Speisekammer liefen. Doch diesmal stiegen sie nicht in ordentlichen Kolonnen durch die Kamine aus. Stattdessen rannten sie wie verrückt umher und drängten alle auf einmal aus der Kammer. Sie konnten es kaum erwarten, an die Oberfläche zu gelangen und rissen dabei das Dach ein.
Erinnerung wich den blindlings um sich schlagenden Krallen aus und folgte ihnen vorsichtig nach oben. Diesmal tauchte sie in Tageslicht ein.
Überall um sie herum schwärmten die Maulwurf-Leute aus. Es waren unzählige, die durcheinander wuselten – wie ein Teppich aus zuckenden Fleischbrocken. Die Luft wurde vom Gestank nach Milch erfüllt und vom Geräusch, mit dem die Leiber aneinanderschabten. Es waren viel mehr, als die Kolonie Mitglieder gehabt hatte: Viele Stöcke hatten sich geleert, als die vergiftete, halb berauschte Population von einer Aufwallung kollektiven Wahnsinns gepackt wurde.
Und die Räuber zeigten schon Interesse. Erinnerung sah einen sich anschleichenden Ratten-Leoparden und ein Rudel hundeartiger Mäuseabkömmlinge, derweil über ihr Raubvögel in den Sturzflug gingen.
Das alles war eine Reaktion auf die Verknappung der Nahrung. Die überfüllten Bauten der Maulwurf-Leute hatten sich geleert, als sie auf der Suche nach etwas Essbarem blindlings ausschwärmten. Im Rauschzustand vermochten sie sich aber nicht mehr vor Gefahren zu schützen. Der größte Teil dieser Horde würde heute sterben, hauptsächlich in den Mäulern von Räubern. Der langfristige Bestand der Stöcke war dadurch aber nicht gefährdet. Die Kolonien hatten noch genug fruchtbare Mitglieder, um zu überleben. Zumal es auch eine positive Seite hatte, dass die Population in der Dürreperiode reduziert wurde. Die Maulwurf-Leute vermehrten sich schnell, und wenn das Nahrungsangebot sich wieder vergrößerte, würden auch die leeren Bauten und Speisekammern sich bald wieder füllen.
Die Gene würden weitergegeben: Nur darauf kam es an. Selbst dieser periodische Wahnsinn war Teil des größeren Plans. Dennoch würden heute viele ausgelöscht werden.
Während die Räuber sich an den gedeckten Tisch setzten und die Luft vom Knacken von Knochen und Knorpeln, den Schreien der Sterbenden und dem Gestank von Blut erfüllt war, schlich Erinnerung von diesem Ort des Wahnsinns und Tods davon und nahm die durch eine lange Zwangspause unterbrochene Wanderung zu den fernen purpurnen Hügeln wieder auf.
Schließlich kam Erinnerung zu einer großen Bucht, wo das Meer tief ins Land hinein reichte.
Sie kletterte eine erodierte Sandsteinklippe hinab. Einst hatte dieses Gelände sich unter dem Meer befunden, und Sedimente hatten sich über Jahrmillionen abgelagert. Nun war das Land aus dem Meer emporgestiegen, und Flüsse und Bäche hatten breite Gräben in den freigelegten Meeresboden gefräst. Dabei waren tiefe, kompakte Schichten zum Vorschein gekommen, in denen zum Teil – zwischen dicken Sandsteinschichten eingeklemmt – Reste von Schiffswracks und Schutt von untergegangenen Städten eingebettet waren.
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