Dadurch wurde sie schmerzlich an ihre Einsamkeit erinnert. In dem Maß, wie die Sprache verschwand, hatte die Angewohnheit der Fellpflege sich wieder etabliert und die alte Funktion als sozialer Kitt übernommen. (Zumal sie ohnehin nie ganz verschwunden war.) Erinnerung war aber nicht mehr gekämmt worden, seit sie sich zum letzten Mal schlafen gelegt und sich zusammen mit ihrer Mutter ins Nest gekuschelt hatte.
Überhitzt, vom Juckreiz geplagt, hungrig, durstig und einsam wartete Erinnerung in ihrem Akazienhain, bis die Sonne wieder hoch am Himmel stand.
Dann kletterte sie vom Baum herunter.
Die Elefanten-Leute und ihre Nagetier-Hirten waren verschwunden. Im leeren, staubigen Grasland regte sich fast nichts. Die Stille war so drückend wie die Hitze. Durch das staubige Flimmern sah sie im Osten einen dunklen Fleck, bei dem es sich vielleicht um eine Herde von elefantenartigen Schweinen oder Ziegen handelte oder vielleicht um Hominide. Im Westen nahm sie Bewegung wahr, ein braunes Fell. Vielleicht war es eine Räuber-Ratte mit ihren Jungen.
Im Norden, wo die purpurnen Berge dräuten, sah sie diesen dunkelgrünen Klecks. Sie verspürte nur den einzigen Impuls: sich in den Schutz des Walds zu flüchten.
Nackt und mit leeren Händen lief sie über die Ebene und ließ sich hin und wieder auf alle viere fallen, um einen Teil des Gewichts auf die Knöchel zu verlagern. Sie war eine winzige Gestalt, die eine weite, kahle Landschaft durchquerte und nur vom Schatten unter ihren Füßen begleitet wurde.
Sie fand kein Wasser und nichts zu essen außer ein paar Büscheln des spärlichen Grases. Der Durst setzte ihr immer mehr zu, und die Stille wurde immer drückender. Bald erschien ihr Leben nur noch aus diesem Marsch zu bestehen, als ob die Erinnerungen an ein Leben im Grünen und die Familie so bedeutungslos wären wie ihre Träume vom Fallen.
Sie wurde sich bewusst, dass sie einen flachen Abhang in eine große, Kilometer durchmessende Senke hinab stieg. Vor dieser großen Mulde hielt sie inne.
Ein Tal war in die Mitte der Senke eingeschnitten – ein Tal, das einst von einem Fluss gefräst worden war –, doch selbst von hier aus sah sie, dass das Tal trocken war. Die Vegetation unterschied sich von der in der Ebene hinter ihr. Es gab hier keine Bäume, nur ein paar Büsche und vereinzelte grüne Grastupfer. Dafür gab es hier jede Menge rauschender violetter Blätter.
Ein gesundes Misstrauen gegenüber allem Neuen war nie verkehrt. Jedoch lag diese Senke mitten in ihrem Weg und schnitt sie vom bewaldeten Abhang ab, der noch weit entfernt war. Sie sah, dass es hier keine Tiere gab, weder Pflanzenfresser noch pirschende Räuber.
Also ging sie vorsichtig und wachsam weiter.
Der violett-purpurne Gürtel entpuppte sich als Blumen, die in dichten Gruppen inmitten dünner fahler Grashalme wuchsen – ein paar waren so hoch, dass sie ihr bis zur Hüfte reicht. Sie ging weiter, bis sie überall von kräftigem Purpur umgeben war. Doch auch hier gab es kein Wasser.
Einst hatte hier eine Stadt gestanden. Doch selbst jetzt, lang nach dem Untergang der Stadt, war der Erdboden noch so verseucht, dass nur metalltolerante Pflanzen zu überleben vermochten – zum Beispiel die Kupfer-Blumen mit den violetten Blüten.
Schließlich wurden die purpurnen Blumen wieder lichter. Im Herzen dieses seltsamen Orts kam sie zu einem flachen Flussufer. Das Flussbett war trocken und nur mit Staubverwehungen gefüllt: Geologische Verschiebungen hatten vor schon langer Zeit das Wasser umgeleitet, das diese Rinne gefräst hatte. Erinnerung stieg das erodierte Ufer hinunter und grub im Staub, doch auch hier gab es keine Feuchtigkeit.
Nachdem sie die flache Senke wieder verlassen hatte, dauerte es nicht lang, bis Erinnerung aufs nächste Hindernis stieß.
Es gab hier Bäume, knorrige, zäh wirkende Bäume, sowie Termiten- und Ameisenhügel, die wie Statuen über eine ansonsten trockene und leblose Ebene verstreut waren. Es war kein Wald – dafür standen die Bäume nicht dicht genug zusammen –, sondern es glich eher einem Garten, wo man einen großen Abstand zwischen den einzelnen Bäumen gelassen und sie mit Termitenhügeln und Ameisennestern umgeben hatte. Das waren Borametz-Bäume, die neue Art. Der Garten weckte ein tiefes, instinktives Gefühl des Unbehagens in Erinnerung. Im tiefsten Innern wusste sie, dass dies nicht die Art von Landschaft war, in der die Hominiden sich entwickelt hatten.
Und diese fremdartige Landschaft aus Bäumen und Termitenhügeln war wieder eine Barriere auf ihrem Weg; sie erstreckte sich so weit nach links und rechts, wie das Auge reichte. Und als die Sonne sich dem Horizont entgegensenkte, wurden Durst und Hunger schier unerträglich.
Zögernd ging sie weiter.
Etwas kitzelte sie am Fuß. Sie schrie auf und sprang zurück.
Sie war in eine doppelte Ameisen-Kolonne getreten. Die Tiere liefen auf einer Spur zwischen einem Nest – dessen Löcher sie im Boden sah – und den Wurzeln eines Baums hin und her. Sie bückte sich und fuhr mit den Händen über die Ameisen. Dabei wirbelte sie zwar mehr Staub als Insekten auf, aber es gelang ihr trotzdem, sich ein paar Ameisen in den Mund zu stecken und kaute die knusprigen Leckereien. Immer mehr emsige Ameisen liefen ihr um die Füße herum, ohne das Schicksal ihrer Kameraden zur Kenntnis zu nehmen.
Der Baum, der das Ziel dieser Ameisen darstellte, war nichts Besonderes: Er war klein und hatte einen dicken, knorrigen Stamm und Äste, die mit kleinen roten Blättern behangen waren, sowie breite Luftwurzeln, die sich über den Boden ausbreiteten, bevor sie wie stochernde Finger darin verschwanden.
Erinnerung ging zum Borametz-Baum hin und musterte ihn skeptisch. Es hingen keine Früchte an den tiefen Ästen. Dafür wuchs etwas daran, das wie hartschalige Nüsse aussah, in Klumpen am Fuß des Stamms in der Nähe der Wurzeln. Aber es gab nur ein paar Nüsse, weniger als ein Dutzend. Sie versuchte sie abzureißen, aber sie hingen zu fest für ihre Finger, und die Schalen waren zu hart für ihre Zähne. Sie riss ein paar Blätter ab und kaute sie versuchsweise. Sie waren bitter und trocken.
Sie gab es auf, ließ die letzten Blätter fallen und lief zu einer verheißungsvolleren Nahrungsquelle. Der nächste Termitenhügel war so groß wie sie, ein hoher Kegel aus getrocknetem Lehm. Sie ging zum Baum zurück und suchte nach einem Zweig. Sie hatte früher schon Termiten gefischt, obwohl sie nicht so gut war wie seinerzeit Capo. Sie war nicht einmal so geschickt, wie Schimpansen es im Zeitalter der Menschen gewesen waren. Aber es gelang ihr vielleicht doch, genug von den wimmelnden Leckereien hervorzuholen, um den Hunger zu lindern…
Sie erhaschte einen Blick auf einen vorstoßenden Kopf mit Schneidezähnen, die wie Messerklingen durch die Luft säbelten. Eine Ratte. Sie machte einen Satz und griff nach den Ästen des Borametz. Die Äste waren dünn, verworren und schwer zu greifen. Aber sie schaffte es trotzdem, denn das war die einzige Deckung, die sie hatte.
Es war ein Maus-Raptor: einer von der Kolonie, die die elefantenartigen Menschenabkömmlinge zum See geführt hatten. Der Raptor stieß vor Wut einen schrillen Schrei aus, richtete sich auf den kräftigen Hinterbeinen auf, schnitt mit den blutverschmierten Schneidezähnen durchs untere Blattwerk und rannte mit dem massiven Schädel gegen den Stamm des Borametz.
Der junge, rastlose und neugierige Raptor hatte noch nie diese Art von Tier gejagt. Erinnerung so weit zu verfolgen war ein schönes Spiel gewesen. Doch nun hatte der Raptor genug gespielt und wollte wissen, wie sie schmeckte.
Die schorfige Rinde des Borametz scheuerte schmerzhaft an ihrem Körper. Die Äste hingen zu hoch für den Raptor. Doch unter der Wucht des großen Kopfes erzitterte der ganze Baum, und Erinnerung wusste, dass sie früher oder später wie eine reife Frucht herunterfallen würde. Sie geriet in Panik und wand sich durch die Äste, um sich möglichst weit vom Raptor zu entfernen.
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