Sie legte sich hin und drückte sich schwere Nüsse an die Brust. Bald störte sie das Zischen der machtlosen Soldaten auch nicht mehr als das Geräusch eines entfernten Gewitters. Sie war so erschöpft, dass sie einnickte.
Und dann hörte sie Bewegung in der Kammer, ein Scharren und Schaben. Vorsichtig steckte sie den Kopf über die Barriere aus Nüssen. Sie sah Maulwurf-Leute in der Kammer herumlaufen, aber keine Soldaten. Sie schienen vergessen zu haben, dass sie überhaupt hier war. Sie hoben Nüsse auf und schafften sie aus der Kammer in den Tunneleingang. Erinnerung hatte keine Ahnung, was sie da machten. Sie hatte nicht einmal die geistige Kapazität, um die Frage überhaupt zu formulieren. Es kam nur darauf an, dass sie keine Bedrohung mehr für sie darstellten.
Sie sank wieder in ihr improvisiertes Nest, knabberte noch ein bisschen an der Knolle, dann schlief sie ein.
Die Maulwurf-Leute hatten sich wegen der Trockenheit dieses Orts unter die Erde verkrochen – deshalb und wegen der Jäger. Wenn man sich in den Boden eingrub, war man sogar vor Ratten sicher.
Natürlich hatten sie dafür einen Preis zahlen müssen. Die Leute waren mit jeder Generation etwas mehr geschrumpft, um sich besser im wachsenden Tunnelkomplex bewegen zu können. Und mit der Zeit waren die Körper durch die Beschränkungen des Lebens im Untergrund geformt worden: Sie verloren die nutzlosen Augen, die Fingernägel worden zu Grabklauen und die Körperbehaarung wurde durch Schnurrhaare ersetzt, die aus länglichen Schnauzen sprossen und ihnen dabei halfen, ihren Weg im Dunklen zu finden.
Die Trockenheit hatte Kooperation befördert.
Die Maulwurf-Leute lebten von Wurzeln und Knollen, in der Erde vergrabenen Schätzen. In der Trockenheit wurden die Knollen groß, wuchsen aber in weiten Abständen. Das war besser so für die Pflanzen, weil große Knollen nicht so schnell austrockneten. Eine einzelne Maulwurfs-Person, die aufs Geradewohl gegraben hätte, wäre wahrscheinlich längst verhungert, bevor sie auf die dünn gesäten Schätze gestoßen wäre. Wenn man aber bereit war, seinen Fund zu teilen, dann erhöhten sich die Erfolgsaussichten für die Gruppe als Ganzes, wenn viele Kolonie-Mitglieder in allen Richtungen gruben.
Alle Menschenabkömmlinge waren Sozialwesen wie ihre Vorfahren, und sie spezialisierten sich in dem Maß, wie sie diese Sozialität entwickelt hatten. Diese Maulwurf-Leute hatten die Sozialität sozusagen auf die Spitze getrieben. Sie lebten wie in einem Insekten-Kollektiv, wie Ameisen, Bienen oder Termiten. Oder vielleicht waren sie auch wie nackte Maulwurfs-Ratten, die eigenartigen, in Stöcken lebenden Nagetiere, die einst Somalia, Kenia und Äthiopien verseucht hatten und längst ausgerottet worden waren.
Dies war ein Stock. Hier waltete kein Bewusstsein. Es war aber auch gar kein Bewusstsein notwendig. Die globale Organisation des Stocks war die Summe der Interaktionen seiner Mitglieder.
Die meisten Bewohner der Kolonie waren Weibchen, aber nur ein paar von diesen Weibchen waren fruchtbar. Diese ›Königinnen‹ hatten die Kinder produziert, über die Erinnerung in der Kinderstube gestolpert war. Der Rest der Weibchen war steril; sie hatten nicht einmal die Pubertät erreicht und widmeten ihr Leben der Aufzucht nicht ihres eigenen Nachwuchses, sondern der Kinder ihrer Schwestern und Cousinen.
In genetischer Hinsicht ergab das natürlich einen Sinn. Sonst hätte sich es auch gar nicht so ergeben. Die Kolonie war eine große Familie, die durch Inzucht zusammengehalten wurde. Indem man den Bestand der Kolonie sicherte, stellte man auch sicher, dass sein genetisches Erbe weitergegeben wurde, wenn auch nicht direkt durch eigenen Nachwuchs. Wenn man steril war, war das die einzige Möglichkeit, seine Gene weiterzugeben.
Aber das war nicht das einzige Opfer. In dem Maß, wie die Körper dieser Kolonie-Bewohner geschrumpft waren, waren auch die Gehirne geschrumpft. Man brauchte kein Gehirn mehr. Der Stock kümmerte sich um einen, genauso wie die Maus-Raptoren sich um die Elefanten-Leute kümmerten, die sie in Herden hielten und verzehrten. Man vermochte die Energie des Körpers sinnvoller zu nutzen, als ein unnötiges Gehirn damit zu befeuern.
Und mit der Zeit verzichteten die Maulwurf-Leute sogar auf die wertvollste aller Säugetier-Erbschaften: auf die Warmblütigkeit. Weil sie ihre Bauten kaum verließen, brauchten die Maulwurf-Leute keine so aufwändige Stoffwechsel-Maschinerie – zumal ein kaltblütiger Späher weniger Nahrung brauchte als ein warmblütiger. In ein paar Millionen Jahren würden diese Maulwurf-Leute wie Eidechsen ausschwärmen und in Konkurrenz zu den Reptilien und Amphibien treten, die die MikroÖkologie seit jeher bewohnten.
Und so huschten die Maulwurf-Leute ängstlich, unwissend und mit zuckenden Schnurrhaaren durch die mit Speichel zementierten Gänge. Doch im Schlaf rollten sie mit den zugewachsenen rudimentären Augen, während sie von seltsam offenen Ebenen träumten, auf denen sie frei und ungehindert umherstreiften.
Erinnerung verlor jegliches Zeitgefühl. Im stickig heißen Gefängnis der Kammer schlief sie, aß Wurzeln und Knollen und sog Wasser aus den Baumwurzeln. Die Maulwurf-Leute ließen sie in Ruhe. Sie war schon seit Tagen hier, ohne an etwas zu denken und andere Bedürfnisse zu verspüren außer zu essen, Kot und Urin abzusondern und zu schlafen.
Trotzdem wurde sie schließlich unruhig. Sie wachte auf und schaute sich verschlafen um.
Im trüben, diffusen Licht sah sie, dass Maulwurf-Leute die Kammer betraten und sie durch einen engen Schacht im Dach wieder verließen. Sie bewegten sich in einer Linie. Die schlackernde Haut warf Falten, wenn sich aneinander drückten, die Schnurrhaare zuckten und die klauenbesetzten Hände krabbelten.
Obwohl der Maus-Raptor und andere Gefahren im Hinterkopf präsent waren, sehnte Erinnerung sich danach, wieder nach draußen zu kommen – nach dem Tageslicht, nach frischer Luft, nach Grün.
Sie wartete, bis die Maulwurf-Leute vorbei geklettert waren. Dann stieg sie über den Haufen Nüsse und quetsche sich durch die schmale Bresche im Dach.
Es war eine Art Kamin, der zu einem Spalt purpurschwarzen Himmels hinaufführte. Der Anblick des Himmels trieb sie an, und sie quetschte sich immer höher durch den engen, zerklüfteten Kamin. Mit Händen und Füßen, Knien und Ellbogen arbeitete sie sich durch den Dreck und presste Brust und Hüften durch Lücken, die viel zu klein für sie zu sein schienen.
Schließlich steckte sie den Kopf über die Erde. Sie atmete die frische Luft in tiefen Zügen ein und fühlte sich gleich viel besser. Aber die Luft war kalt. Die knorrigen Konturen der Borametz-Bäume verstellten ihr den Blick auf den Sternenhimmel. Es war Nacht, die Zeit, wo die Maulwurf-Leute sich bevorzugt an die Oberfläche wagten. Sie schob die Arme aus dem Loch, legte die Hände auf den Boden und stemmte sich mit der Kraft eines Baumkletterers hoch, wobei sie den Körper aus dem Kamin zog wie einen Korken aus der Flasche.
Die Maulwurf-Leute waren überall; sie rannten auf Hinterbeinen und Knöcheln umher, schnüffelten, schlurften und wuselten durcheinander. Aber ihre Bewegungen waren dennoch geordnet. Sie gingen in Kolonnen, die sich um die Termitenhügel und Ameisennester schlängelten, zwischen den Borametz-Bäumen und den Ausstiegslöchern hin und her. Sie rissen die Nüsse ab, die in Klumpen an den Baumwurzeln wuchsen, Nüsse, die manchmal so groß waren wie der Kopf eines Maulwurfwesens. Aber sie schienen sie nicht zu knacken, um ans Fleisch zu gelangen. Sie brachten sie nicht einmal in die unterirdischen Lager. Vielmehr holten sie noch Nüsse aus den unterirdischen Depots herauf, wie sie nun sah.
Sie brachten die Nüsse zum Rand des Borametz-Hains. Dort hoben Arbeiter kleine Gruben im Boden aus – wobei sie das spärliche Gras ausrissen –, in denen die Nüsse dann abgelegt und vergraben wurden.
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