Die Kaninchen-Gazelle gelangte offensichtlich zu dem Schluss, dass der geduckte Hominide keine besondere Gefahr für sie darstellte. Sie weidete weiter das spärliche Gras ab, das im Schatten des Baums wuchs.
Vorsichtig kroch Erinnerung vorwärts.
Nun sah sie, dass ihr Besucher zu einer Herde gehörte, die sich über die Ebene verteilt hatte und genüsslich das Gras abfraß. Sie waren groß, zum Teil doppelt so groß wie sie. Die schlanken, eleganten Tiere sahen aus wie Gazellen, stammten in Wirklichkeit aber von Kaninchen ab, was ihre langen Ohren und weißen Stummelschwänze eindeutig bezeugten.
Die Beine dieser Tiere glichen ebenfalls denen von Gazellen. Die geraden Vorderläufe konnten arretiert werden, um dem Tier einen sicheren Stand zu verleihen. In der Mitte der Hinterläufe hatten diese Kaninchen jedoch zurück gebogene Gelenke, bei denen es sich um Knöchel handelte. Die untere Hälfte des Beins glich einem verlängerten Fuß, der auf zwei hufartigen Zehen ruhte, und das Knie befand sich oben in der Nähe des Rumpfs und war im Fell verborgen. Mit den in Sprinter-Manier angewinkelten Hinterläufen waren die Kaninchen-Gazellen ständig fluchtbereit, worauf es in ihrem Leben hauptsächlich ankam. Während sie grasten, streiften die Jungen um die Füße ihrer Eltern; die Herde blieb dicht beisammen, und es verging keine Sekunde, wo nicht wenigstens eins der erwachsenen Tiere den Blick hätte umher schweifen lassen.
Der Grund hierfür wurde bald offensichtlich. Einer der größeren Böcke schreckte auf und floh. Der Rest der Herde folgte sofort als wirbelnde Schemen in einer Staubwolke.
Eine schlanke schwarze Gestalt schoss aus der Deckung einer Felswand. Es war eine Katze, diesmal jedoch eine mit dem gestreckten, kräftigen Leib eines Leoparden. Der Ratten-Leopard verschwand im Staub und jagte der Kaninchen-Herde hinterher.
Dann kehrte wieder Stille ein. Für eine Weile regte sich nichts auf der Ebene, rein gar nichts außer der flimmernden Luft. Die Sonne hatte den Zenit überschritten. Doch die Hitze ließ nicht nach, und Durst schnürte Erinnerung die Kehle zu.
Sie kroch aus ihrem Versteck. Ihr überaus menschliches Gesicht mit der geraden Nase, dem kleinen Mund und dem Kinn verzog sich im hellen Licht des Nachmittags. Sie richtete sich zu ihrer vollen Größe auf und sog die Luft ein. Sie hörte ein Träten und das Klappern von Stoßzähnen, das von Osten zu kommen schien – der Sonne abgewandt. Und sie roch Wasser.
Sie schlug diese Richtung ein. Sie lief im Zickzack, rannte von einer Deckung zur nächsten und legte immer wieder einen Zwischenspurt auf allen vieren ein. Diese Tochter der Menschheit rannte wie ein Schimpanse.
Schließlich erklomm sie einen flachen Felsvorsprung aus erodiertem Sandstein. Und blickte auf einen See. Er wurde von Bächen gespeist, die sich von entfernten Hügeln herabschlängelten, doch sie sah auch, dass der See mit Schilf überwuchert war und von einer breiten Schlammpfanne eingerahmt wurde. Sie fand Schutz im Schatten einer Akazie, ließ den Blick schweifen und suchte nach einer Möglichkeit, ans Wasser zu gelangen.
Hier hatten sich, einer alten Gewohnheit folgend, die Pflanzenfresser zum Trinken versammelt.
Sie sah noch mehr Kaninchen. Da waren die scheuen gazellenartigen Geschöpfe von der Art, die sie zuvor schon erblickt hatte. Aber es gab auch schwere, bisonartige Exemplare – und kleinere Kreaturen, die ihnen zwischen den Füßen umherhüpften und -liefen. Doch nicht alle Spezies hatten sich von der Lebensweise ihrer Vorfahren verabschiedet. Es gab noch kleinere Pflanzenfresser, vor allem in den Wäldern, wo wie eh und je kleines Getier umherwuselte.
Warzenschweine schnüffelten und schnaubten am schlammigen Ufer des Sees; sie schienen sich im Lauf der Zeit überhaupt nicht verändert zu haben. Wenn keine Notwendigkeit zur Anpassung bestand, war die Natur konservativ. Und dann machte Erinnerung riesige, träge Kreaturen aus, die gemächlich durchs flache Wasser stapften. Sie waren mit den Ziegen verwandt, denen sie im Wald begegnet war, doch das waren Riesen mit säulenartigen Beinen und Hörnern, die wie Mammutstoßzähne gekrümmt waren. Sie hatten keine Rüssel – keiner dieser Wiederkäuer hatte diesen besonderen anatomischen Trick entwickelt, doch dafür hatten sie lange Hälse wie Giraffen, mit denen sie an die saftigen Blätter niedriger Äste gelangten oder Wasser aus dem See pumpten.
Eine Herde andersartiger Ziegen-Abkömmlinge stand knietief im Wasser. Die Tiere hatten Schwimmhäute zwischen den Hufen, die ein Einsinken im weichen Schlick und Sand verhinderten. Sie hatten breite Schnäbel aus Horn, mit denen sie die Pflanzen am Seeufer abgrasten. Diese Ziegen, die friedlich an der Vegetation des Seeufers knabberten, hatten große Ähnlichkeit mit den Hadrosauriern, den lang verschwundenen entengeschnäbelten Dinosaurieren.
Und genauso wie die Hadrosaurier die vielgestaltigste Gruppe von Dinosauriern gewesen waren, bevor der Komet einschlug, so ermöglichte diese Wiederentdeckung einer uralten Strategie eine neue Ausstrahlung. Es tummelten sich schon viele Spezies der entengeschnäbelten Ziegen, die sich nur durch Nuancen in der Form der Hörner, Größe und Nahrungsvorlieben unterschieden, an den Wasserläufen der tropischen Regionen der Welt und andernorts.
Zugleich wurde diese Szene, wo verhältnismäßig friedliche Pflanzenfresser den Durst löschten, von Räubern belauert, die die Vegetarier gierig beäugten – das war alles schon einmal da gewesen.
Hätte man diese Szene mit halb geschlossenen Augen betrachtet, wäre die Vorstellung gar nicht einmal abwegig gewesen, dass die von Menschen ausgerotteten Tiere wiederauferstanden wären. In dieser neuen Savanne waren die altbekannten Rollen jedoch von neuen Darstellern übernommen worden, die von Wesen abstammten, die das menschliche Ausrottungs-Ereignis überlebt hatten, und von denjenigen, die allen menschlichen Ausrottungs-Versuchen widerstanden hatten: Kleintiere, vor allem die Generalisten – Stare, Finken, Kaninchen – und Nagetiere wie Ratten und Mäuse. Nur dass Kaninchen sich in Gazellen und Ratten sich in Leoparden verwandelt hatten. Die Veränderungen waren subtil: eine nervöse Unruhe bei den Kaninchen und ruckartige, eckige Bewegungen bei den Ratten, denen die geschmeidige Eleganz der Katzen fehlte.
Plötzlich kam Unruhe auf, und es ertönte ein Krachen wie von splitternden Knochen. Zwei der großen Ziegen-Elefantenbullen waren aneinander geraten. Ihre Köpfe wackelten und schwankten auf langen giraffenartigen Hälsen, und die vor den Gesichtern gekrümmten Hörner wurden gekreuzt wie bizarre Krummschwerter.
Erinnerung kauerte sich in den Schatten der Akazien. Als die durch den Kampf beunruhigten Pflanzenfresser sich um sie herum in Bewegung setzten, war sie hier nicht mehr sicher. Es bestand die Gefahr, dass dieser Baum in kurzer Zeit zertrümmert und gefressen wurde.
Und nun machten die aufmerksamen Räuber sich die Verwirrung zunutze.
Ein Rudel von ihnen brach aus der Deckung. Die schlanken, fuchsartigen Geschöpfe mit langen, kräftigen Schenkeln und dick gepolsterten Füßen glichen eher noch Ratten. Sie blieben dicht zusammen und bewegten sich in einer keilförmigen Formation, um einen älteren Ziegen-Elefanten vom Rest der Herde zu trennen. Der große Bulle, dessen mächtige Stoßzähne von lebenslangen Kämpfen gesplittert und verschrammt waren, bellte zornig und ängstlich zugleich und rannte los. Die Ratten nahmen im engen Verbund die Verfolgung auf.
Diese Ratten-Derivate waren wie Hunde, aber sie waren keine Hunde. Die charakteristischen Nagetier-Schneidezähne waren von Zähnen, die für die Zerkleinerung von Samen und Insekten ausgelegt waren, in spitze Klingen umgewandelt worden. Die hinteren Mahlzähne glichen Scheren und waren gut zum Zerkleinern von Fleisch geeignet. Und sie blieben enger zusammen, als ein Hunderudel es je getan hätte – sie wirkten eher wie eine fließende, kraftvolle Einheit. Doch wie bei einem Hunderudel bestand ihre Strategie darin, den Ziegen-Elefanten bis zur Erschöpfung zu hetzen.
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