Ein junges Männchen zischte die herumlungernde Erinnerung an. Er hatte einen seltsamen weißen Fleck auf dem Rückenpelz, sodass er fast wie ein Kaninchen aussah. Sie erriet seine Gedanken: Er glaubte, dass sie es auf die Rinde abgesehen hatte, die er mit seiner Mutter und den Geschwistern bearbeitete. Obwohl die Leute lang nicht mehr so intelligent wie ihre Vorfahren waren, vermochte Erinnerung immer noch die Überzeugung und Absichten anderer zu erkennen.
Weiß-Flecks Rudel war heute jedoch geschwächt. Seit Erinnerung sie zuletzt gesehen hatte, war ihr ältester Sohn verschwunden. Er hatte sich vielleicht auf die Suche nach einer anderen Kolonie gemacht, die irgendwo in den grünen Tiefen des Walds hing. Oder vielleicht war er auch tot. In der Art und Weise, wie sie über die Schulter ins Leere schauten und Platz für ein großes Männchen ließen, das nie mehr kommen würde, zeigten die Familienangehörigen, dass sie sich über den Verlust eines der ihren sehr wohl im Klaren waren. Doch bald würde die Erinnerung verblassen und der Bruder im Nebel der Vergangenheit verschwinden, verloren wie alle Menschenkinder seit der Errichtung des letzten Grabsteins.
Erinnerung würde nie erfahren, was aus dem anderen Sohn geworden war. Dies war kein Zeitalter der Information. Heute tauschten die Leute sich nicht mehr aus. Sie wusste nur das mit Sicherheit, was sie mit eigenen Augen sah.
Trotzdem war das eine Gelegenheit für Erinnerung. Sie hätte dieser geschwächten Gruppe wahrscheinlich einen Platz auf ihrem Baumstamm abzutrotzen vermocht. Doch sie hatte schlecht geschlafen und fühlte sich schwach und rastlos. Von dieser Befindlichkeit wurde sie seit dem Verlust ihres Kindes geplagt. Der Tod des Kindes lag nun schon über ein Jahr zurück, doch der Schmerz war noch so frisch, und das Ereignis in ihrem kaleidoskopartigen, unstrukturierten Bewusstsein noch so präsent, als ob es erst gestern gewesen wäre. Wie all ihre Artgenossen war Erinnerung kein Geschöpf zielgerichteter Planung, sondern impulsiver Handlungen. Und heute verspürte sie nicht den Impuls, von diesen sich zankenden Leuten das Privileg eines Platzes auf ihrem überfüllten Ast zu erkämpfen oder auf der Suche nach Insekten Rinde abzuschälen.
Sie wandte sich ab und bahnte sich einen Weg durch das Astgewirr.
Während sie sich von Ast zu Ast schwang und kletterte, fühlte sie sich ein wenig besser. Die steifen Muskeln wurden schnell geschmeidiger, und sie hatte das Gefühl, richtig wach zu werden. Sie vergaß sogar für kurze Zeit den Verlust ihres Kindes. Sie war noch immer jung – ihre Art erreichte oft ein Lebensalter von fünfundzwanzig oder sogar dreißig Jahren. Und lang nachdem ein entfernter Vorfahr verwirrt aus einer Kanalisation ins ergrünende Tageslicht gekrochen war, war ihr Körper gut an ihre Lebensweise angepasst, auch wenn sie ihr noch nicht in Fleisch und Blut übergegangen war.
Als sie nun mit affenartiger Geschwindigkeit durch den Wald huschte, kam eine Art Freude in ihr auf. Wieso auch nicht? Der Verlust war groß, aber das machte keinen Unterschied für Erinnerung. Der kurze Moment im Licht war hier und jetzt, und den wollte sie auch auskosten. Während sie sich durchs Zwielicht des Walds schwang, bleckte sie die Zähne und stieß ein lautes Lachen aus. Das war ein Reflex, den die Kinder der Menschheit nie verloren hatten, obwohl auf dem heilenden Antlitz der Erde schon dreißig Millionen Sommer aufgeflackert und wieder vergangen waren.
Erinnerungs tropischer Wald war Teil eines großen Gürtels, der sich um den Äquator zog, ein Gürtel, der nur von Meeren und Bergen durchbrochen wurde. Die Wälder waren üppig, obwohl es nach dem zügellosen Kahlschlag der Menschen Jahrtausende gedauert hatte, bis sie etwas vom früheren Reichtum zurück gewonnen hatten.
Die neu entstandene, von Wald geprägte Welt hatte wenig Lebensraum für die Nachfahren der Menschheit gelassen. Also hatten Erinnerungs Vorfahren den Erdboden verlassen und sich wieder ins grüne Reich der Baumwipfel hinauf geschwungenen. Doch es hatte hier schon Primaten gegeben: Affen, deren Vorfahren den verhungernden Menschen in den letzten Tagen entkommen waren, Überlebende des großen Auslöschungs-Ereignisses. Zuerst waren die Menschenabkömmlinge unbeholfener als die Affen. Aber sie waren noch immer intelligent, zumindest halbwegs – und sie waren verzweifelt. Bald hatten sie das Werk der Vernichtung vollendet, das ihre Vorväter nicht erledigt hatten.
Danach hatten sie sich vermehrt. Aber der Druck, der sie vom Erdboden vertrieben hatte, wirkte weiter auf sie.
Erinnerung wusste von alledem natürlich nichts, und doch hatte sie ein molekulares Gedächtnis, eine ununterbrochene, ›durchgezogene‹ Linie eines genetischen Erbes, die sich bis zu den verschwundenen Leuten erstreckte, die die Straße aus dem Gestein gesprengt hatten – und noch viel weiter zurück in noch viel entferntere Zeiten, als Geschöpfe, die Erinnerung glichen, auf Bäume geklettert waren, die diesen Bäumen glichen.
Sie verharrte auf einem Ast, der mit großen roten Früchten beladen war. Sie duckte sich auf dem Ast und machte sich über die Früchte her. Sie schälte sie, schlürfte den fruchtigen Inhalt und ließ die Schalen in die Dunkelheit unter sich fallen. Doch während sie aß, saß sie mit dem Rücken zum Baumstamm, spähte furchtsam in den Schatten und machte schnelle und hektische Bewegungen.
Trotz ihrer Wachsamkeit wurde sie von einer Schale aufgeschreckt, die sie am Hinterkopf traf.
Sie presste sich gegen den Baumstamm und schaute auf. Nun sah sie, dass die Äste über ihr mit etwas Schwerem behängt waren, das wie Früchte aussah. Dicke, dunkle Gebilde hingen herab. Doch diese ›Früchte‹ waren Arme und Beine, Köpfe und funkelnde Augen und geschickte Hände, die sie mit Schalen, Rindenstücken und Zweigen bewarfen. Sie hatten wahrscheinlich auf der Lauer gelegen, als sie sich näherte und dann lautlos Stellung bezogen. Nun bewarfen sie sie sogar mit warmen Kotfladen.
Und dann ging das Geschnatter los. Es war ein lautes, unartikuliertes Geschnatter, das ihr in den Ohren hallte und ihr die Orientierung raubte – was auch beabsichtigt war. Sie kauerte sich in der Astgabel zusammen und presste die Hände auf die Ohren.
Die Schnatternden Leute waren Verwandte von Erinnerungs Art. Sie waren auch einmal Menschen gewesen. Aber die Schnatternden lebten anderes. Sie waren gemeinschaftliche Jäger. Sie alle, von den kaum entwöhnten Jungen aufwärts, arbeiteten mit einer kalten, instinktiven Disziplin, um Beute zur Strecke zu bringen oder Räuber zu bekämpfen. Die Strategie funktionierte auch: Erinnerung hatte schon einige von ihrer Art vor dieser Baum-Armee fallen sehen.
Trotz ihrer unterschiedlichen Lebensweise wären die zwei Arten von Menschenabkömmlingen bis vor ein paar Millionen Jahren noch in der Lage gewesen, sich zu kreuzen; obwohl der Nachwuchs dann unfruchtbar gewesen wäre. Inzwischen war das jedoch unmöglich. Es war eine Speziation eingetreten, eine von vielen. Für die Schnatternden Leute war Erinnerung keine Verwandte mehr, sondern eine potenzielle Bedrohung – oder eine Mahlzeit.
Sie war abgeschnitten. Jeder Ast schien von einem der Schnatternden besetzt sein. Sie vermochte nicht an ihnen vorbeizukommen und sich in den Schutz eines anderen Baums zu flüchten. Es gab nur einen Ausweg: Sie musste von diesem Baum hinunterklettern und über den Erdboden laufen.
Sie zögerte nicht. Sie rutschte vom Baum hinunter, wobei sie sich über weite Strecken fallen ließ und auf ihre Reflexe vertrauend sich kurz an Ästen festhielt, um den Fall zu bremsen. So gelangte sie in die dunkleren Bereiche über dem Waldboden.
Zuerst verfolgten die Schnatternden sie noch und deckten sie mit einem Hagel aus Früchten und Kot ein, der gegen die Rinde klatschte. Sie hörte, wie sie vom Baum ausschwärmten, auf dem sie sie umzingelt hatten und ihren nutzlosen Triumph herausschnatterten und schrien.
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