Ein Teil von ihr schlief nie tief und fest, egal wie gemütlich die Nester auch waren. Im Traum wurde sie immer von den Tiefen unter ihr geängstigt, in die sie vielleicht stürzte. Weil die Baumwipfel der einzig sichere Ort für ihre Leute waren, ergab das zwar keinen Sinn, aber so war es nun einmal. Die Leute würden noch einige Zeit brauchen, um in den Bäumen wieder richtig heimisch zu werden.
Erschwerend kam hinzu, dass ihr bisher einziges Kind von dieser grünen Tiefe unter ihr verschlungen worden war, als es an ihrem regennassen Pelz den Halt verloren hatte und der kleine Körper hinab gestürzt war.
Sie hatte nie mit jemandem darüber gesprochen. Die Leute sprachen gar nicht mehr miteinander. Die Zeiten des endlosen Geredes waren lang vorbei, der Kehlkopf und die kognitiven Kapazitäten eines geschwätzigen Volks waren abgelegt worden, denn sie wurden für ein Leben in den Bäumen nicht gebraucht.
Sie hatte nicht einmal einen Namen. Doch vielleicht schlummerte irgendwo tief in ihr noch eine Erinnerung an andere, längst vergangene Zeiten. Also nennen wir sie Erinnerung.
Sie hörte ein Rascheln in den Laubschicht unter sich, das Geräusch von Fruchtschalen, die durch die Blätter fielen und die ersten zögerlichen, erstickten Rufe der Männchen.
Sie rollte sich auf den Bauch und presste das Gesicht ins Bett aus Zweigen. Sie machte schemenhaft die Kolonie aus, eine dunkle Masse, die in den tieferen Schichten des Blattwerks hing wie ein hölzernes U-Boot, das irgendwie in den Bäumen aufgehängt worden war. Die Kolonie erwachte zum Leben, und überall bewegten, arbeiteten und zankten sich schlanke Gestalten. Man begann wieder mit den alltäglichen Verrichtungen. Und es war nicht ratsam, zu spät zu kommen.
Erinnerung stand auf und brach aus dem Nest, wie ein Vogel aus dem Ei schlüpft. Nachdem sie sich zu ihrer vollen Größe von einem Meter aufgerichtet hatte, schwenkte sie den kleinen Kopf und ließ den Blick durch ihre Welt schweifen.
Der Wald war eine Rhapsodie in Grün. Die Kronen der höchsten Bäume bildeten ein Dach hoch über ihrem Standort. Im Norden, Westen und Osten vermochte Erinnerung jenseits der Bäume ein blaues Glitzern auszumachen. Das vom Meer reflektierte Licht hatte sie immer schon fasziniert. Und obwohl sie die südliche Küste nicht zu erkennen vermochte, hatte sie trotzdem das intuitiv richtige Gefühl, dass das Meer sich dort fortsetzte, und das Land wie ein breiter Gürtel umschloss: Sie wusste, dass sie auf einer großen Insel lebte. Aber das Meer war nicht von Belang, denn es war zu weit entfernt, als dass sie davon betroffen gewesen wäre.
Dieses besonders dichte Waldstück war aus einer Spalte gesprossen, die tief ins Urgestein einschnitt. Dieser von massiven Gesteinswänden geschützte und von Bächen, die durch die Schlucht verliefen, gespeiste Ort wimmelte nur so von Leben, obwohl es hier und da auch kahle Stellen gab, die von Borametz-Bäumen und ihren Parasiten, einer neuen Lebensform, erobert worden waren.
Die Schlucht war aber nicht natürlichen Ursprungs. Sie war von langer Zeit aus dem Urgestein gesprengt worden und stellte ein Resultat menschlicher Straßenbautätigkeit dar.
Die Erosion hatte aber ihren Tribut gefordert: Als die Entwässerungsgräben und Abwasserkanäle nicht mehr instand gehalten wurden, waren die Wände kollabiert. Trotzdem hätte ein aufmerksamer Geologe eine feine dunkle Schicht im Sandstein entdeckt, die am Grund der Schlucht sich abgelagert hatte. Dabei handelte es sich um halb zersetztes Bitumen, eine Schicht, die hie und da noch Fragmente von Fahrzeugen enthielt, die einst hier entlang gefahren waren.
Selbst jetzt hinterließen die Menschen noch ihre Spuren.
Ein Schatten, von der tief stehenden Sonne geworfen, huschte lautlos über die raschelnden Blätter hinweg. Es war natürlich ein Vogel gewesen. Die Räuber in den oberen Etagen waren schon wach, hielten sich aber bedeckt.
Mit einem letzten Blick auf das ruinierte Nest, das mit Kot, Haaren und Urin besudelt war und das sie schon in ein paar Minuten vergessen haben würde, machte sie sich an den Abstieg.
Als der tropische Tag anbrach, waren die Leute schon zwischen den Bäumen ausgeschwärmt und machten sich auf die mühsame Suche nach Früchten, unter der Baumrinde lebenden Insekten und Wasserreservoirs in Blütenkelchen.
Erinnerung hatte aber keine Lust dazu; sie blieb zurück und schaute den anderen zu.
Es gab Männchen und Weibchen gleichermaßen, wobei ein paar Weibchen Kinder mit sich herumtrugen. Die Männchen machten Mätzchen, stießen aggressive Rufe aus und ergingen sich in Drohgebärden. Das war etwas, das sich im Lauf der Zeit nicht geändert hatte: Die Struktur der Primaten-Gesellschaft war noch immer die gleiche, eine Macho-Hierarchie, die einem Netzwerk duldsamer weiblicher Clans übergeordnet war.
In diesen mittleren Schichten des Waldes wuchsen die größeren Bäume über die Kronen der kleineren hinaus. An diesem Ort, der weder allzu tief noch allzu hoch war, waren die Leute vor den oben und unten lauernden Gefahren relativ sicher. Und hier, umgeben von den hohen, schlanken Stämmen der großen Bäume, hatten sie ihre Kolonie errichtet.
Es war eine etwa zehn Meter durchmessende Kugel. Die dicke Wand bestand aus zusammengepressten Zweigen und Laub. Die Blätter waren durch Kauen weich gemacht worden, bevor man sie in die Ritzen des Gebildes gestopft hatte. Das Ganze war dann fest in den Gabeln der robusten Äste des Baums verankert worden, in dem es über Generationen hinweg gebaut worden war. Und es war bewohnt: Ein stetiger Strom aus Kot und Urin floss am Baumstamm hinab, und auch andere Flüssigkeiten tropften aus den Öffnungen, mit denen die Basis der Kolonie perforiert war.
Diese Kugel aus Speichel und Zweigen war die anspruchsvollste Konstruktion, zu der die Menschenabkömmlinge überhaupt in der Lage waren. Aber sie war das Resultat des Instinkts, nicht des Bewusstseins. Bewusste Planung lag ihr genauso wenig zugrunde wie einem Vogelnest oder einem Termitenhügel.
Erinnerung sah kleine Gesichter, die furchtsam durch Lücken in der primitiven Wand der Kolonie lugten. Sie erinnerte sich an die Zeit, die sie mit ihrem Kind in diesen feuchten, übel riechenden Wänden verbracht hatte. Der eigentliche Zweck der Kolonie bestand nämlich darin, die verwundbarsten Mitglieder der Gemeinschaft vor den Räubern des Waldes zu schützen: Nachts versammelten die Jungen, die Alten und die Kranken sich in ihren Wänden. Doch nur die kleinsten Kinder und ihre Mütter durften auch tagsüber in ihrem Schutz verweilen, während der Rest sich ins Freie hinauswagte, um Nahrung zu sammeln.
Und als das vom Blätterdach gefilterte Sonnenlicht auf die Kolonie fiel, funkelten die Wände. Ins Geflecht aus Zweigen und Blättern waren helle Steine eingebettet, die man vom Waldboden aufgesammelt hatte. Es waren sogar Glassplitter darunter. Im Lauf von Jahrmillionen wurde Glas instabil und milchig, während sich winzige Kristalle daran bildeten. Trotzdem hatten diese Splitter ihre Form behalten – Reste von Windschutzscheiben, Heckleuchten und Flaschen, die nun die Wände dieses formlosen Bauwerks zierten.
Es sah zwar aus wie eine Zierde, aber es war keine. Das Glas und die glitzernden Steine dienten der Verteidigung. Selbst jetzt noch vermochten diese Leute durch Gebäude Räuber abzuhalten – sie wurden von den tief verwurzelten Instinkten verjagt, die sie in der Zeit der gefährlichsten Killer entwickelt hatten, die jemals auf der Erde gelebt hatten. Also imitierten die Menschenabkömmlinge Strukturen ihrer Vorfahren, ohne dass sie sich auch nur vorzustellen vermochten, was sie da imitierten.
Einst waren die Bäume natürlich das Reich von Primaten gewesen, wo sie ohne Furcht vor Räubern umherzustreifen vermochten. Affen und Menschenaffen hatten keine Festungen aus Laub und Zweigen gebraucht. Die Zeiten hatten sich geändert.
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