Bonner war derjenige, der aus seiner Begierde für Moon kein Hehl machte. Er saß verlegen und verkrampft da; im Gesicht hatte er ein Tarnmuster aus Lehm. Er sah selbst wie ein Tier aus, sagte Snowy sich, und schien nur mit größter Mühe noch einen Rest von Disziplin wahren zu können.
Snowy sah, dass die Gruppe zerfiel und auseinanderdriftete – breite Verwerfungslinien zogen sich durch das vorher eng geknüpfte Beziehungsgeflecht. Sie hatten kaum noch etwas mit der ängstlichen Gruppe der Marineflieger gemeinsam, die sich in jener ersten Nacht in der zerstörten Kirche zusammengedrängt und die Rationen gefuttert hatte. Sie würden sich vielleicht gegenseitig wegen Moon umbringen, falls Moon sie nicht vorher tötete.
Und Ahmed, ihr Anführer, war sich dessen nicht einmal bewusst. Er lächelte sogar. »Ich habe mir Gedanken über die Zukunft gemacht«, sagte er.
Sidewise stieß ein dumpfes Stöhnen aus.
»Ich meine, über die fernere Zukunft«, sagte Ahmed. »Über die nächsten paar Monate hinaus, sogar über die nächsten paar Jahre. Auch wenn wir den nächsten Winter überstehen, es werden harte Zeiten für unsre Kinder.«
Bei der Erwähnung der Kinder warf Snowy einen Blick auf Moon. Sie schaute auf ihre verschränkten Hände.
Ahmed sagte, dass in der Phase der Industrialisierung – und vor allem während der letzten paar verrückten Jahrzehnte – die Menschheit alle verfügbaren fossilen Brennstoffe verfeuert hatte: Kohle, Erdgas und Öl. »Die fossilen Brennstoffe entstehen wahrscheinlich schon wieder neu. Das wissen wir. Aber es dauert sehr lange. Das Zeug, das wir in ein paar hundert Jahren verbrannt haben, benötigte vierhundertfünfzig Millionen Jahre zu seiner Entstehung. Aber es wird trotzdem genug Brennstoff für unsere Nachfahren geben«, sagte er. »Torf. Torf entsteht, wenn Sumpfmoose, Seggengräser und andere Pflanzen sich unter Sauerstoffausschluss in Feuchtgebieten zersetzten. Stimmt’s? Und in manchen Teilen der Welt wurde bis in die Mitte des zwanzigsten Jahrhunderts Torf als Brennmaterial gestochen.«
»In Irland«, sagte Sidewise. »Und in Skandinavien. Aber nicht hier.«
»Dann gehen wir eben nach Irland oder nach Skandinavien. Oder vielleicht finden wir ihn auch hier. Die Bedingungen haben sich nämlich grundlegend verändert, seitdem wir in den Kälteschlaf gegangen sind. Und überhaupt, wenn wir keinen Torf finden, dann werden wir eben etwas anderes finden. Uns gehört schließlich die ganze Welt.« Er tippte sich an die Schläfe. »Und wir haben noch immer unsre Intelligenz und unsren Einfallsreichtum.«
»Um Gottes willen«, platzte Sidewise heraus. »Ahmed, hast du es immer noch nicht begriffen? Wir sind nicht mehr als ein Haufen Ausgestoßener – Ausgestoßene in der Zeit. Um Himmels willen, Mensch, wir haben nur eine einzige Gebärmutter bei uns.«
»Meine Gebärmutter«, sagte Moon nun, ohne aufzuschauen. »Meine Gebärmutter. Du verdammter Wichser.«
»Sumpfeisen«, sagte Ahmed ungerührt.
Sie schauten ihn verständnislos an.
»In Sümpfen und Marschen entsteht Eisenoxid«, sagte Ahmed. »Wenn eisenhaltiges Grundwasser mit der Luft in Berührung kommt – nun, dann rostet es. Richtig, Sidewise? Die Wikinger hatten sich das schon zunutze gemacht. Wieso nicht auch wir…?«
Während sie die Diskussion fortführten, richtete Snowy den Blick aufs dämmerige Grün des nahen Walds. Sidewise hat Recht, sagte er sich. Wir sind durch einen Zufall hierher verschlagen worden, wie eine Art Echo. Wir werden genauso verrotten und vom Grün verschlungen werden wie die zerstörten Gebäude, und unsre Knochen werden mit den Milliarden anderer bleichen, die schon im Erdboden begraben sind. Und es wird auch kein Hahn nach uns krähen. Wenn er es nicht zuvor schon im tiefsten Innern gewusst hatte, so war er spätestens nach der Begegnung mit dem Affen-Mädchen davon überzeugt. Sie ist die Zukunft, sagte er sich; das sprachlose Kind der Wildnis.
Als sie auseinander gingen, nahm Snowy Sidewise auf die Seite und erzählte ihm von der wilden Frau.
»Hast du sie gefickt?«, fragte Sidewise sofort.
Snowy runzelte angeekelt die Stirn. »Nein. Mir war zwar danach – er stand mir förmlich bis zur Kinnlade –, aber als ich sie mir dann genauer ansah, ist es mir gleich wieder vergangen.«
Sidewise klopfte ihm auf die Schulter. »Deswegen müssen dir aber keine Zweifel an deiner Manneskraft kommen, Kumpel. Weena war wahrscheinlich nur nicht die Richtige für dich.«
»Weena?«
»Ein alter literarische Bezug. Aber egal. Hör zu. Ganz egal, was El Presidente da drüben sagt, wir sollten mehr über diese Wesen herausfinden. Es gibt viel Wichtigeres, als Torf zu stechen. Wir müssen herausfinden, wie sie leben, wenn wir überleben wollen… Geh zu deiner Freundin, Snowy. Und frag sie, ob sie sich mit uns beiden verabreden will.«
Nach ein paar Tagen, ehe Ahmed seine Pläne zum Wiederaufbau der Zivilisation noch umzusetzen vermochte, wurde er krank. Er musste in seinem Verschlag bleiben und sich von den anderen mit Nahrung und Wasser versorgen lassen.
Sidewise glaubte, dass er sich eine Quecksilbervergiftung zugezogen hatte, die von der Müllhalde herrührte. Quecksilber war seit Jahrhunderten für die Herstellung von allen möglichen Dingen verwendet worden, für Hüte und Spiegel, für Insektenvernichtungsmittel und Arzneien gegen Syphilis. Der Erdboden war wahrscheinlich damit gesättigt, und selbst jetzt, nach tausend Jahren, sickerte das Zeugs noch immer über verschiedene Kanäle in den See, wo es sich über die Nahrungskette in höchster Konzentration in den Fischen und den ›Endverbrauchern‹, den Menschen, ablagerte.
Für Sidewise entbehrte das alles nicht einer gewissen Ironie: dass Ahmed, der große Planer – derjenige, der von ihnen allen am längsten an den expansionistischen Träumen des längst vergangenen einundzwanzigsten Jahrhunderts festgehalten hatte –, dass ausgerechnet er an einer Dosis des Gifts erkrankt war, dem langlebigen Vermächtnis jenes zerstörerischen Zeitalters.
Snowy focht das nicht an. Es gab viel interessantere Dinge auf der Welt als alles, was Ahmed sagte oder tat.
Zum Beispiel Weena und ihre haarigen Gesellen aus dem Wald.
Snowy und Sidewise hatten unweit der Stelle, wo Snowy die erste Begegnung mit dem Affenmädchen gehabt hatte, eine Art Unterstand gebaut: eine Hütte, die aufwändig mit Gras und Laub getarnt worden war.
Snowy schaute auf Sidewise, der sich im Schatten der Hütte ausgestreckt hatte. In der Hitze dieses un-englischen Sommers hatten sie beide sich aller überflüssigen Kleidung entledigt und trugen nur noch Shorts, einen Ausrüstungs-Gürtel und Stiefel. Sidewise hatte sich eine perfekte Einzelkämpfer-Tarnung verpasst. Er war nach dem erst vor ein paar Wochen erfolgten Auszug aus der Grube nicht mehr wieder zu erkennen.
»Dort«, zischte Sidewise.
Schlanke graubraune Gestalten, zwei, drei, vier an der Zahl, lösten sich aus dem Schatten am Waldrand und wagten sich ein paar Schritte ins Freie hinaus. Die schlanken und aufrechten Gestalten waren nackt, aber sie trugen etwas in den Händen: wohl die üblichen primitiven Steinhämmer und Messer. Sie stellten sich in einem lockeren Kreis mit dem Rücken zueinander auf und schauten sich mit ruckartigen Kopfbewegungen um.
Sidewise wäre allerdings nicht Sidewise gewesen, wenn er sich keine Geschichte über den Ursprung dieser kleinen haarigen Leute zurechtgelegt hätte. »Schmuddelkinder«, sagte er. »Wer hat es am längsten in den niedergehenden Städten ausgehalten? Die Schmuddelkinder, die immer schon in der Kanalisation hausten und von Abfällen lebten. Es hat vielleicht Jahre gedauert, bevor sie überhaupt bemerkten, dass etwas sich verändert hatte…«
Nun rannten die Haarigen über die Wiese auf eine am Boden liegende Gestalt zu. Es war ein Hirsch, ein großer Bock, den Snowy und Sidewise mit einer Schleuder erlegt und in der Hoffnung hier abgelegt hatten, die Haarigen aus der Deckung des Waldes zu locken. Die Haarigen scharten sich um den Kadaver. Dann machten sie sich daran, die Hinterläufe vom Körper abzusäbeln. Und während sie stumm arbeiteten, hielt einer Wache und sicherte in alle Richtungen.
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