»So machen sie das also«, murmelte Snowy. »Sie nehmen die Beine – siehst du?«
»Schnell und unkompliziert«, sagte Sidewise. »So ziemlich die einfachste Art der Fleischerei: Man hacke ein Bein ab und bringe es in den Schutz des Walds, bevor etwas mit längeren Zähnen kommt und einem die Beute streitig macht. Sie arbeiten koordiniert, auch wenn sie dabei nicht sprechen. Siehst du, wie die Wachen sich abwechseln? Sie sind Gruppen-Jäger. Oder zumindest Aasfresser, Ausputzer.«
Snowy fragte sich, weshalb sie so vorsichtig waren, wenn Sidewise Recht hatte und keine großen Räuber in der Nähe waren.
»Sie sehen menschlich aus, aber sie verhalten sich nicht so«, flüsterte Snowy. »Weißt du, was ich meine? Sie verhalten sich nicht wie eine Patrouille. Sie spähen eher wie Katzen oder Vögel.«
Sidewise grunzte. »Diese Schmuddelkinder hatten weder Kultur noch Schule gekannt. Sie waren in der Kanalisation zuhause. Vielleicht haben sie deswegen auch das Reden eingestellt. Vielleicht, weil in der Kanalisation die Tarnung durch Schweigen wichtiger war als Sprache.«
»Sie haben die Sprache verloren?«
»Wieso denn nicht? Es verlieren doch auch ständig Vögel die Fähigkeit zu fliegen. Intelligenz kostet etwas. Selbst ein Spatzenhirn wie deins, Snowy, ist aufwändig; es entzieht dem Körper viel Energie. Vielleicht ist dies eine Welt, wo es weniger auf Intelligenz ankommt als auf die Fähigkeit, schnell zu laufen oder gut zu sehen. Es hat wahrscheinlich nicht viel dazugehört, um die Sprache abzuschalten und sogar das Bewusstsein. Und nun kann das Gehirn schrumpfen. Warte noch hunderttausend Jahre, und sie werden wieder aussehen wie Australopithecinen.«
Snowy schüttelte den Kopf. »Ich hatte immer geglaubt, die Menschen der Zukunft hätten große Wasserköpfe und keine Schwänze mehr.«
Sidewise schaute ihn im Dämmerlicht des Unterstands an. »Die Intelligenz hat uns nicht immer zum Vorteil gereicht, nicht wahr?«, fragte er säuerlich. Er schaute auf die Haarigen und rieb sich das Gesicht. »Da kommt man doch schon ins Grübeln, wenn man die so sieht. Die Zivilisation war nur ein Zwischenspiel. Am Anfang hätte man die Weichen noch zu stellen vermocht: das Ruder herumreißen und die Welt wieder aufbauen. Nun ist die Chance vertan, und wir sind in dieses Stadium zurückgeworfen worden: Wir leben wieder wie Tiere, als ein Tier von vielen in der Ökologie. Eine primitive, unmittelbare Existenz.«
Sie schauten noch eine Weile zu, wie die haarigen, nackten Leute dem toten Hirsch die Beine ausrissen und in den Schutz des Waldes schleppten, wobei sie zusammenarbeiteten und gleichzeitig sich stritten.
Dann kehrten sie ins Basislager zurück.
Wo Bonner Amok lief. Denn Moon war verschwunden.
»Wo, zum Teufel, ist sie?«
Moon hatte sich eine eigene Hütte errichtet, die solider gebaut und geschützter war als die der anderen. Snowy hatte sich immer gesagt, dass sie die Tür bestimmt mit einem Vorhängeschloss gesichert hätte, wenn sie denn eins gehabt hätte. Nun war alles weg – der Rucksack, den Moon aus der Fliegerkombi angefertigt hatte, die Werkzeuge und Kleidung, der hölzerne Kamm und ihr wertvoller Vorrat an auswaschbaren Tampons.
Bonner durchwühlte die Überreste und zertrümmerte die Wände der Hütte. Er war nackt bis auf fadenscheinige Shorts. Mit den starken Muskeln und dem lehmverschmierten Haar, Gesicht und Oberkörper hatte er kaum noch eine Ähnlichkeit mit dem schüchternen jungen Piloten, dessen Snowy sich angenommen hatte, als sie sich auf dem Flug zu einem Flugzeugträger in der Adria zum ersten Mal begegnet waren.
Ahmed kam aus seiner Hütte; er war in eine versilberte Überlebensdecke gewickelt? »Was ist denn hier los?«
»Sie ist weg. Sie ist einfach abgehauen!«, tobte Bonner.
Sidewise trat vor. »Wir sehen selbst, dass sie verschwunden ist, du Trottel.«
Bonner wollte ihm einen wuchtigen Schlag versetzen. Sidewise gelang es, sich vor der Faust des jungen Piloten wegzuducken, aber er wurde trotzdem an der Schläfe gestreift und zu Boden geworfen.
Snowy rannte zu Bonner und packte ihn von hinten an den Armen. »Um Himmels willen, Bonner, immer mit der Ruhe!«
»Dieser Eierkopf hat sie gefickt. Die ganze Zeit hat er sie gefickt.«
Ahmed wirkte konsterniert, wozu er auch allen Grund hatte, sagte Snowy sich; wenn Moon verschwunden und mit ihr ihre einzige Hoffnung auf Fortpflanzung verflogen war, dann waren seine grandiosen Pläne Makulatur, bevor er sie auch nur ansatzweise in die Praxis umgesetzt hatte. »Aber wieso hätte sie überhaupt verschwinden sollen?«, stöhnte er. »Wieso ist sie allein weg? Was hat das denn für einen Sinn?«
»Was hat das alles überhaupt noch für einen Sinn?«, fragte Snowy. »Wir werden eh alle hier umkommen. Es war von vornherein aussichtslos, Splot. Alles Sumpfeisen der Welt hätte daran nichts geändert.«
Sidewise rang sich ein Grinsen ab. »Ich glaube nicht, dass Bonner sich in diesem Augenblick Sorgen über das Schicksal der Menschheit macht. Nicht wahr, Bonner? Es stinkt ihm doch nur, dass die einzige Pussy auf der Welt verschwunden ist, ohne dass sie ihn auch nur ein einziges Mal rangelassen hätte.«
Bonner holte wieder aus, doch diesmal fiel Snowy ihm gleich in den Arm.
Ahmed schleppte sich hustend in seine Hütte zurück.
Nachdem eine relative Ruhe wiederhergestellt war, ging Snowy zum Gestell, wo sie eine Reihe gehäuteter Kaninchen aufgehängt hatten und bereitete eine Mahlzeit zu.
Bevor das erste Kaninchenragout überm Feuer brutzelte, hatte Bonner schon seinen Rucksack gepackt. Da stand er nun im Abendlicht und wandte sich an Sidewise und Snowy. »Ich verpiss mich«, sagte er.
Sidewise nickte. »Du willst Moon suchen?«
»Was glaubst du wohl, du Scheißkerl.«
»Ich glaube, sie hatte eine gute Ausbildung. Sie wird schwer aufzuspüren sein.«
»Ich werde es schon schaffen«, knurrte Bonner.
»Warte bis morgen«, riet Snowy ihm. »Iss erst mal was. Du begibst dich in der Dunkelheit nur unnötig in Gefahr.«
Doch Bonners Großhirn schien endgültig deaktiviert worden zu sein. Er schaute die beiden hinter seiner Schlammmaske finster an; er wirkte total angespannt. Dann stapfte er davon, wobei der große Rucksack auf dem Rücken auf und nieder hopste.
Sidewise legte noch mehr Fleisch aufs Feuer. »Den haben wir zum letzten Mal gesehen.«
»Glaubst du, dass er Moon finden wird?«
»Nicht, wenn sie ihn kommen sieht.« Sidewise schaute nachdenklich. »Und wenn er sie zwingen will, wird sie ihn töten. Das traue ich ihr zu.«
Das Kaninchen war fast gar. Snowy nahm es vom Feuer und portionierte es auf ihren selbst geschnitzten Holztellern. Wo Bonner und Moon nun nicht mehr da waren, teilte er es in drei Portionen auf.
Er und Sidewise schauten die drei Portionen für eine Weile an. Ahmed war in seiner Hütte. Aus den Augen, aus dem Sinn. Snowy nahm den dritten Teller und verteilte das Fleisch auf die beiden anderen Teller. »Wenn es Ahmed wieder besser geht, soll er sich selbst etwas zu essen machen. Wenn nicht, können wir auch nichts für ihn tun.«
Dann taten sie sich am Kaninchen gütlich.
»Ich werde morgen aufbrechen«, sagte Snowy schließlich.
Sidewise nahm es schweigend zur Kenntnis.
»Und was ist mit dir? Wohin wirst du gehen?«
»Ich glaube, ich werde eine Forschungsreise unternehmen«, sagte Sidewise. »Ich werde mir die Städte ansehen. London und Paris, falls ich es schaffe, den Kanal zu überqueren. Ich will wissen, was geschehen ist. Es wird aber nicht mehr viel übrig sein. Und der Rest wird wohl so aussehen wie die Ruinen des römischen Reiches.«
»Keines Menschen Auge wird je wieder so etwas schauen«, sagte Snowy.
»Das ist wohl wahr.«
»Und was dann?«, fragte Snowy zögernd. »Ich meine, wenn wir älter werden. Und schwächer.«
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