Und obwohl sie schon ausgewachsen war, hatte sie einen kindlichen Körper. Ultima war in funktionaler Hinsicht eine Frau – die Leute gebaren immer noch –, aber es gab keine Männer mehr, und das Geschlecht war ohne Bedeutung. Sie hatte keine Brüste, nicht einmal Brustwarzen. Dieser Tage wurde keine Muttermilch mehr gebraucht, genauso wenig wie die komplexen Strukturen eines großen Gehirns. Der Baum sorgte für sie.
Und sie war kein zweibeiniges Wesen. Das sah man an der Art und Weise, wie sie zum Baum lief: Arme und Beine waren zum Hangeln und Klettern gemacht und die Füße zum Greifen – nicht für den aufrechten Gang. Diese experimentelle Art der Fortbewegung war schon vor langer Zeit ad acta gelegt worden. Im Vergleich zu ihren Ahnen war sie langsam und träge, wie alle ihrer Art.
Am Baum hielt Ultima Ausschau nach ihrer Tochter.
Der blättrige Kokon des Kindes schmiegte sich in eine tiefe Astgabel. Das kleine Mädchen war sicher in weiche weiße Daunen gebettet; orangefarbene Haarsträhnen fielen ihm über die gewölbte Stirn. Während der Saft des Baums durch den fahlen Strang der Bauch-Wurzel strömte, die in ihrem Magen mündete, regte das Kind sich und brabbelte etwas vor sich hin. Es hatte den kleinen Daumen in den Mund gesteckt und träumte grüne Träume.
… Etwas stimmte nicht. Ultima war zwar keine begnadete Analytikerin, aber auf ihre Instinkte konnte sie sich verlassen. Sie strich über den zottigen roten Pelz am Bauch des Kindes und strich das flauschige baumwollartige Futter des Kokons glatt. Das kleine Mädchen wimmerte und drehte sich im Schlaf um. Ultima konnte machen, was sie wollte, dieses unbehagliche Gefühl wollte einfach nicht weichen. Nervös richtete sie den Kokon her.
Der Wind schwoll an wie ein machtvoller Atem.
Ultima stieg höher ins schützende Geäst des Baums. Hastig wickelte sie sich in ihren Kokon und schloss den Blatt-Ver-schluss. Die Blätter waren dick und zäh, wie Platten einer ledernen Rüstung. Die anderen Leute taten es ihr nach und richteten sich auf den Ästen ein, sodass es aussah, als ob der Baum plötzlich große schwarze Früchte triebe.
Die Wolken jagten über den Himmel und hielten die sengende Hitze einer allzu heißen Sonne zurück. Ultima schaute zum Himmel hinauf. Neugier war keine verbreitete Regung mehr, wo die Welt über weite Spannen von Zeit und Raum mehr oder weniger unverändert war. Doch heute war ein anderer Tag. Sie hatte die Luft noch nie so feucht, schwer und drückend empfunden und noch nie so dräuend schwarze Wolken gesehen.
Und im letzten Moment, ehe das Unwetter losbrach, sah sie flüchtig etwas anderes.
Auf dieser vom Zahn der Zeit abgenagten Ebene lag eine Sphäre. Sie war doppelt so groß wie sie. Sie war weder blau wie der Abendhimmel noch rostrot wie der Erdboden oder die Farbe des Sands wie die meisten Kreaturen auf der Welt. Stattdessen war sie eine schillernde Mischung aus Purpur und Schwarz, den Farben der Nacht.
An diesem seltsamen Tag war hier etwas Außergewöhnliches erschienen. Sie schaute mit offenem Mund hin, ohne zu begreifen, was sie da sah. Aber sie spürte, dass dieses Ding nicht von ihrer Welt war. In dieser Beziehung hatte sie Recht.
Nun blitzte es, und sie vergrub wimmernd das Gesicht im Grün. Die Blätter schlossen sich um sie und hüllten sie ein. In der Wärme und Dunkelheit wurde die Luft angenehm feucht. Als jedoch die Bauch-Wurzel nach der ventilartigen Öffnung im Bauch, direkt unter dem Nabel tastete, schob sie sie weg. Sie suchte hier nur Schutz und hatte dem Baum heute nichts zu geben.
Und dann brach der Sturm los.
Wind und Staub kamen wie eine rote Wand von Westen angerast. Vertrocknete Pflanzen wurden zerrissen. Selbst die verstreuten, majestätischen Bäume wurden geschüttelt und verloren Äste. Leute und andere Symbionten wurden zu ihrem Entsetzen aus den Kokons gerissen und davon gewirbelt.
Die ersten Regentropfen, die wie Geschosse aufschlugen, kündigten einen apokalyptischen Wolkenbruch an. Der Regen war so stark, dass er sogar die steinharten Oberflächen der uralten Termitenhügel angriff. Es gab nichts, was das Wasser aufzunehmen vermocht hätte, kein Gras, um den Erdboden festzuhalten. Nach ein paar Minuten schoss Wasser durch jede ausgetrocknete Rinne und durch jedes Flussbett. Eine große schlammige Flutwelle ergoss sich in den Steinbruch. Das von der Erde rot gefärbte Wasser toste in Strudeln um die Baumwurzeln.
Doch der Regen hörte auch so schnell wieder auf, wie er begonnen hatte. Die Wolken stoben tiefer ins Innere des Superkontinents. Nichts in Ultimas Erfahrungsschatz hatte sie auf einen so sintflutartigen Regen vorbereitet. Doch der Baum verstand das Ereignis auf seine gemächliche pflanzliche Art.
Während Ultima sich noch geschockt im Kokon in einer embryonalen Haltung zusammenkrümmte, spürte sie, wie die lederartige Haut um sie herum pulsierte. Am liebsten wäre sie hier in der feuchten Dunkelheit geblieben, statt sich der schrecklichen Wirklichkeit jenseits dieser Schutzhülle zu stellen. Aber der Baum vermittelte ihr ein Gefühl des Unbehagens und der Unruhe. Er wollte, dass sie ihn verließ und sich an die Arbeit machte.
Sie setzte sich mit dem Rücken an die Wand des Kokons und drückte dagegen. Die Blätter lösten sich mit einem feuchten Schmatzen voneinander. Sie fiel vom Baum und landete im Schlamm.
Überall um sie herum fielen die Leute vom Baum. Sie machten ein paar versuchsweise Schritte auf den Knöcheln. Der Schlamm fühlte sich seltsam an: Es war ein schweres, klebriges rotes Zeug, das an Beinen, Füßen und Händen haftete.
Die höllische Sonne kam wieder hervor, und der Schlamm trocknete auch schon wieder. Das Wasser verdunstete, und der Boden backte wieder fest zusammen. Doch für diese paar Minuten war der Boden eine quirlige Arena von Geräuschen und Bewegung gewesen. Mit wahrnehmbarer Geschwindigkeit wuchsen Ranken, Blätter und sogar Blumen aus dem Schlamm. Sie waren Samen entsprossen, die für ein Jahrhundert im Boden geschlummert hatten. Bald platzen Samensäcke auf. Wie winziges Schrapnell wurden neue Samen in die Luft geschossen. Ganze Fortpflanzungszyklen wurden in Minuten abgeschlossen.
Insekten kamen aus ihren eingekapselten Verstecken hervor und tanzten und paarten sich über den Tümpeln, die bald wieder verdunsten sollten. Auf dem Erdboden tummelten sich noch mehr Insekten wie Ameisen, Skorpione, Schaben, Käfer und ihre stark abgewandelten Nachfolge-Spezies. Viele Ameisen waren Pflanzenfresser, und Ultima sah, wie sie sich in Kolonnen zwischen den erblühenden Pflanzen hin- und herbewegten und Baumaterial für ihre Nester transportierten.
Und es gab unzählige kleine Echsen. Sie waren kaum zu sehen, so gut war die Tarnung der rötlichen Haut im Sand. Sie schwärmten zur Jagd aus. Bei ein paar erschöpfte die Jagd-Strategie sich darin, sich mit offenen Mäulern neben den Ameisen-Kolonnen zu postieren und darauf zu warten, dass ihnen ein paar unvorsichtige Insekten in die Falle gingen.
Eine kleine, kompakte kaktusartige Pflanze, eine stachelbewehrte Kugel mit lederartiger Haut, zog die oberen Wurzeln aus dem Boden und koppelte sich von einem tief verzweigten Wurzelsystem ab. Auf Wurzeln, die wie ungelenke Beine schwankten, wankte das Gewächs aufs noch immer fließende Wasser zu. Dort angekommen sank die Pflanze wie mit einem Seufzer in den Schlamm. Sofort lösten die Hilfs-Wurzeln, die die Fortbewegung ermöglicht hatten, sich auf, und neue Wurzeln bohrten sich in den feuchten Boden.
Überall taten die Leute sich an den plötzlich aufgetauchten Pflanzen, Reptilien, Amphibien und Insekten gütlich. Es waren hauptsächlich Erwachsene: Kinder waren selten in diesen entbehrungsreichen Zeiten. Der Baum achtete darauf.
Читать дальше