Es war niemand zu sehen. Alle Kokons waren geschlossen – alle außer einem. Kaktus schaute zu ihr herab; ihr kleiner Kopf lugte aus dem halbgeschlossenen Kokon. Die verspielt wirkende Kaktus schlüpfte zwischen den Blättern hervor und ließ sich neben Ultima auf den Boden fallen.
Ultimas Unbehagen steigerte sich.
Sie lief um den Fuß des Baums herum und stellte fest, dass der Kokon ihres Babys noch in der Astgabel war. Er war aber dicht versiegelt und ließ sich auch nicht öffnen, als sie es versuchte. Kaktus gesellte sich zu ihr, als ob das alles ein Spiel wäre. Die beiden gruben die Finger in die Nahtstellen zwischen den versiegelten Blättern und versuchten sie angestrengt grunzend aufzubrechen.
Früher wäre eine Person auf die Idee gekommen, die Kapsel mithilfe eines Werkzeugs zu öffnen. Aber das war einmal. Es gab keine Werkzeugfertigung mehr, und alle Artefakte der Menschen waren längst verrottet, außer ein paar Pithecinen-Steinäxten, die in tiefen Erdschichten begraben waren. Und Ultima und Kaktus waren mit der Lösung ungewöhnlicher Probleme überfordert, weil die Routine auf ihrer monotonen Welt kaum jemals unterbrochen wurde.
Schließlich öffnete der Kokon sich mit einem Schmatzen.
Ultimas Baby war noch immer ins weiße baumwollartige Material eingehüllt, mit dem der Kokon ausgekleidet war. Doch Ultima sah auf den ersten Blick, dass die ›Baumwolle‹ sich verdickt hatte. Sie hatte sich ums Gesicht des Babys geschlossen, und Tentakel schoben sich in Mund, Nase, Augen und Ohren.
Kaktus wich mit einem Ausdruck des Ekels zurück.
Beide wussten, was das bedeutete. Sie hatten es zuvor schon gesehen. Der Baum tötete Ultimas Baby.
Ein neues Pangäa.
Hundert Millionen Jahre, nachdem Erinnerung in ein namenloses Grab gefahren war, hatte der amerikanische Doppelkontinent sich wieder nach Osten bewegt. Während der Atlantik sich schloss, driftete Afrika nordwärts über den Äquator und drückte Eurasien infolgedessen noch weiter nach Norden. Derweil verschob Antarktika sich auch nach Norden und stieß mit Australien zusammen, worauf diese neue Formation sich ins östliche Eurasien hineinschob. So wurde der neue Superkontinent geboren. Im Innern, weit von der mäßigenden Wirkung der Meere entfernt, stellten sich extreme Bedingungen ein – höllisch heiße und trockene Sommer und mörderisch kalte Winter.
Alle Bewegungshindernisse waren abgebaut worden. Es fiel der Startschuss für alle Pflanzen und Tiere, sich in alle Richtungen auszubreiten. Das war eine Parallele zur großen globalen Vermischung, die die Menschen während ihrer ein paar tausend Jahre währenden Herrschaft über den Planeten erzwungen hatten – und wie damals war eine vereinte Welt zugleich auch eine verarmte Welt. Es war in schneller Folge zum Massensterben gekommen.
Und im Zeitablauf wurde es immer schlimmer.
Beim neuen Superkontinent setzte sofort die Alterung ein. Die tektonischen Kollisionen hatten neue Gebirge aufgefaltet, und während sie wieder erodierten, reicherte der Schutt die Ebenen mit chemischen Nährstoffen wie Phosphor an. Jedoch fanden keine neuen Gebirgsentstehungs-Ereignisse mehr statt, keine neue Auffaltungen. Die letzten Berge wurden abgetragen. In den Erdboden einsickerndes Regenwasser und Grundwasser wuschen die letzten Nährstoffe aus, und als die weg waren, entstanden keine neuen mehr.
Neuer roter Sandstein wurde gebildet: rostrot, so rot wie die leblosen Wüsten des Mars einst gewesen waren – die Signatur der Leblosigkeit, von Erosion und Wind, von Hitze und Kälte. Der Superkontinent wurde zu einer weiten roten Ebene, die sich über Tausende von Kilometern erstreckte und nur von den verwitterten Stümpfen der letzten Berge aufgelockert wurde.
Gleichzeitig wurden durch den sinkenden Meeresspiegel die flachen Kontinentalschelfe freigelegt. Während sie austrockneten, verwitterten sie auch schon und entzogen der Luft Sauerstoff. Auf dem Land starben viele Tiere den Erstickungstod. Und als in den Weltmeeren der vom Pol zum Äquator verlaufende Temperatur-Gradient abflachte, wurden auch die Meeresströmungen abgewürgt. Das Wasser stand ab.
Zu Land und zu Wasser starben die Spezies aus wie Laub, das im Herbst von den Bäumen fiel.
In einer austrocknenden Welt waren die alten Stratageme der Konkurrenz und der Antagonismus Räuber-Beute nicht mehr brauchbar. Die Welt hatte nicht mehr die Energie, komplexe Nahrungsketten und -pyramiden aufrechtzuerhalten.
Stattdessen hatte das Leben auf ältere Strategien zurückgegriffen.
Das Teilen war so alt wie das Leben selbst. Sogar die Zellen von Ultimas Körper waren das Ergebnis von Zusammenschlüssen primitiverer Formen. Die ältesten Bakterien waren einfache Lebewesen gewesen, die vom Schwefel und der Wärme der höllischen frühen Erde lebten. Für sie war das Erscheinen von Cyanobakterien – den ersten Photosynthese-Treibenden, die Kohlendioxid mit Hilfe von Sonnenlicht in Kohlenhydrate und Sauerstoff umwandelten – eine Katastrophe, denn reaktionsfreudiger Sauerstoff war für sie ein tödliches Gift.
Die Überlebenden siegten durch Kooperation. Ein Schwefel-Fresser verschmolz mit einer anderen primitiven Lebensform, einem frei lebenden Schwimmer. Später wurde ein Sauerstoff atmendes Bakterium in den Verband integriert. Die dreiteilige Entität – Schwimmer, Schwefel-Liebhaber und Sauerstoff-Atmer – erlangten die Fähigkeit der Reproduktion durch Zellteilung und vermochten Nahrungspartikel einzulagern. In einer vierten Absorption lagerten ein paar wachsende Komplexe grüne Photosynthese-Bakterien ein. Das Ergebnis waren schwimmende grüne Algen, die Vorfahren aller Pflanzenzellen.
Im Verlauf der Evolution war oft geteilt worden, sogar genetisches Material. Selbst die Menschen und ihre Abkömmlinge, bis hin zu Ultima, waren wie Kolonien aus kooperativen Wesen, von den hilfreichen Bakterien im Magen-Darm-Trakt, die Nahrung verwerteten bis zu den vor Äonen integrierten Mitochondrien, den ›Kraftwerken‹ der Zellen.
Und daran hatte sich bis jetzt auch nichts geändert. Joan Usebs Intuition hatte sie nicht getrogen: Auf die eine oder andere Art hatte die Zukunft der Menschen in der Kooperation gelegen, miteinander und mit den Lebewesen um sie herum. Doch diesen finalen Ausdruck der Kooperation hätte nicht einmal sie vorherzusehen vermocht.
Der Baum, ein entfernter Spross des Borametz aus Erinnerungs Zeit, hatte die Prinzipien der Kooperation und des Teilens quasi auf die Spitze getrieben. Nun vermochte der Baum nicht mehr ohne die Termiten und anderen Insekten zu überleben, die Nährstoffe zu den tiefen Wurzeln beförderten und auch nicht ohne die pelzigen Säugetiere mit den klaren Augen, die ihm Wasser, Nahrung und Salz brachten und seine Samen einpflanzten. Sogar die Blätter gehörten streng genommen zu einer anderen Pflanze, die auf ihm lebte und sich von seinem Saft ernährte.
Andererseits hätten die Symbionten, einschließlich der Menschenabkömmlinge, aber auch nicht ohne die Feuchtigkeit des Baums zu überleben vermocht. Die zähen Blätter schützten sie vor Räubern, vor der sengenden Hitze und sogar vor den Jahrhundert-Stürmen. Der Saft wurde über die Bauch-Wurzeln eingespeist, über die der Baum im Gegenzug Nährstoffe bezog: Babys wurden nicht gestillt, sondern in der Obhut des Baums durch diese pflanzlichen Nabelschnüre ernährt. Der aus dem tiefsten Grundwasser gewonnene Saft half ihnen auch über die schlimmsten superkontinentalen Trockenzeiten hinweg – und weil der Saft mit entsprechenden Chemikalien angereichert war, heilte er auch Wunden und Krankheiten.
Und der Baum war sogar an der menschlichen Reproduktion beteiligt.
Es gab noch immer Sex, aber nur eingeschlechtlichen Sex, weil es nur noch ein Geschlecht gab. Sex diente nur noch dem Knüpfen und der Festigung sozialer Bande und dem Vergnügen. Die Leute brauchten keinen Sex zur Vermehrung mehr, nicht einmal zum Vermischen genetischen Materials. Der Baum kümmerte sich darum. Er reicherte seinen Saft mit Körperflüssigkeiten eines ›Elters‹ an, vermischte sie und ließ sie im mächtigen Stamm zirkulieren und injizierte sie dann in jemand anders.
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