Die Leute gebaren aber noch. Ultima selbst hatte das Kind geboren, das nun in seiner pflanzlichen Wiege lag. Dieses Erbe, diese Bindung zwischen Mutter und Kind hatte sich als zu elementar erwiesen, um sie aufzugeben. Aber man fütterte sein Kind nicht mehr, weder an der Brust noch sonst wie. Alles, was man seinem Kind geben musste, war Zuwendung und Liebe. Man zog es nicht mehr auf. Das übernahm der Baum mit den organischen Mechanismen in den blättrigen Kokons.
Natürlich fand noch immer eine gewisse Auslese statt. Nur die Individuen, die gut mit dem Baum und miteinander zusammenarbeiteten, wurden integriert und durften zum zirkulierenden Strom von Keim-Material beitragen. Die Kranken, die Schwachen und die Behinderten wurden mit pflanzlicher Erbarmungslosigkeit ausgestoßen.
Eine so starke Annäherung der Biologien von Flora und Fauna wäre früher unwahrscheinlich erschienen. Doch im Lauf der Zeit vermochten Adaption und Selektion einen vierflossigen Lungenfisch durchaus in einen Dinosaurier zu verwandeln oder in einen Menschen, ein Pferd, einen Elefanten oder in eine Fledermaus – und sogar wieder zurück in einen Wal, eine fischartige Kreatur. Da war es eine vergleichsweise leichte Übung, Menschen und Bäume über eine schlauchartige Verbindung aneinanderzukoppeln.
In den Mythen der verschwundenen Menschheit war dieses neue Arrangement schon ansatzweise vorweggenommen worden. Die mittelalterliche Legende vom Lamm des Schafsgewächses hatte vom Borametz gehandelt, einem Baum, dessen Früchte winzige Lämmer enthielten. Die Legenden der Menschheit waren nun vergessen, aber die Sage vom Borametz, der Tier und Pflanze vereinte, fand in diesen letzten Tagen einen eigentümlichen Widerhall.
Aber auch dafür hatte man wie immer einen Preis zahlen müssen. Die komplexe Symbiose mit dem Baum hatte die Menschenabkömmlinge in eine Art Stasis versetzt. Mit der Zeit hatten die Körper von Ultimas Art sich auf die Hitze und Trockenheit spezialisiert, vereinfacht und einen höheren Wirkungsgrad entwickelt. Nachdem die entscheidende Verknüpfung erst einmal hergestellt war, hatten Baum und Leute sich so gut aneinander angepasst, dass keine Seite mehr imstande war, diese Verbindung kurzfristig zu lösen.
Seit die schlangenartigen Schnüre sich in den Bauch der Menschenabkömmlinge gesenkt hatten und seit die Leute sich erstmals in den Schutz der Borametz-Blätter geflüchtet hatten, waren zweihundert Millionen Jahre vergangen, von denen kein Chronist kündete.
Doch selbst jetzt, nach dieser langen Zeit, waren die symbiotischen Bindungen noch schwach im Vergleich zu älteren Kräften.
Auf seine gemächliche pflanzliche Art war der Baum zu dem Schluss gelangt, dass die Leute sich im Moment kein Baby mehr zu leisten vermochten. Ultimas Kind wurde wieder absorbiert und seine Substanz in den Baum zurückgeführt.
Das war eine uralte Kalkukation: In schweren Zeiten zahlte es sich aus, die verwundbaren Jungen zu opfern und die ausgereiften Individuen am Leben zu erhalten, die in besseren Zeiten wieder Nachwuchs bekommen würden.
Aber das Kind war fast schon alt genug, sich selbst zu ernähren. Es fehlte nicht mehr viel, und es wäre lebensfähig gewesen. Und es war Ultimas Baby: Das erste, das sie bekommen hatte und vielleicht auch das einzige, das sie je bekommen durfte. Es war ein Widerstreit uralter Instinkte. Und das war ein Versagen der Adaption, dieser Konflikt der Instinkte.
Es war ein urzeitliches Kalkül, eine alte Geschichte, die von unzähligen Großmüttern an unzählige Generationen weitergegeben worden war. Doch für Ultima, hier am Ende der Zeit, war dieses Dilemma so schmerzlich, als ob es eben erst im Höllenfeuer geschmiedet worden wäre.
Es dauerte eine Weile, bis die Entscheidung fiel. Und am Ende war die Bindung zwischen Mutter und Kind stärker als die Bande zwischen Symbionten. Sie stieß die Hände in die baumwollartige Substanz und riss ihr Kind aus dem Kokon. Sie zog die Bauch-Wurzel heraus und die weißen Fasern aus Mund und Nase. Das Kind öffnete mit einem schmatzenden Geräusch den Mund und drehte den Kopf in alle Richtungen…
Kaktus schaute erstaunt zu. Ultima stand keuchend und mit offenem Mund da.
Was nun? Ultima stand mit dem Baby im Arm da. Sie hatte sich dem Baum widersetzt, dem sie ihr Leben verdankte, und war nun auf sich allein gestellt – ohne durch Instinkt oder Erfahrung auf diese neue Situation vorbereitet worden zu sein. Aber der Baum hatte versucht, ihr Baby zu töten. Sie hatte keine Wahl gehabt.
Sie trat einen Schritt vom Baum zurück. Dann noch einen. Und wieder einen.
Bis sie rannte, an der Stelle vorbei rannte, wo sie nach dem Salz gegraben hatte – die Sphäre war verschwunden und nur noch eine vage Erinnerung –, und sie rannte immer weiter mit dem Baby im Arm, bis sie zu den Wänden des Steinbruchs kam, die sie blitzschnell erklomm.
Sie schaute nach unten in die Grube, deren Boden mit den geduckten stummen Gestalten der Borametz-Bäume durchsetzt war. Und da kam Kaktus mit einem trotzigen Grinsen angerannt.
Das Land war kahl. Es gab ein paar verkrüppelte Bäume und Büsche mit steinharter Rinde und nadelspitzen Blättern, außerdem Kakteen, die so klein und hart wie Kieselsteine und mit langen, giftigen Stacheln gespickt waren. Diese Pflanzen schützten ihre Wasservorräte und hatten sich buchstäblich eingeigelt; Ultima und Kaktus würden nur im äußersten Notfall das Risiko eingehen, die Verteidigung zu durchbrechen.
Man musste aufpassen, wohin man die Füße und Hände setzte.
Es gab Löcher im roten Wüstenboden. Sie leuchteten in einem kräftigen Rot und sahen irgendwie aus wie Blumen; sie hoben sich kaum gegen den roten Erdboden ab und fielen eigentlich nur wegen der dunklen Knoten in der Mitte auf. Leichtsinnige Eidechsen und Amphibien, und hin und wieder sogar ein Säugetier liefen in diese gut getarnten Fallen – und entkamen ihnen auch nicht mehr, weil diese Löcher nämlich Münder waren.
Diese tödlichen Mäuler gehörten Kreaturen, die in engen Bauten unter der Erdoberfläche lebten. Bei den haarlosen und augenlosen Wesen mit Beinen, die zu flossenartigen Stummeln mit Grabklauen verkürzt worden waren, handelte es sich um Nagetiere. Sie gehörten zu den letzten Nachfahren der Abstammungslinien, die einst den Planeten beherrscht hatten.
Dieses offene Terrain ohne jede Deckung begünstigte keine großen Räuber, und die Überlebenden hatten neue Strategien entwickeln müssen. Diese wühlenden Ratten-Mäuler hatten die Umtriebigkeit und das Sozialverhalten ihrer Vorfahren längst verloren und fristeten ihr Dasein nun in Erdlöchern. Die von den Klima-Exzessen abgeschirmten Ratten-Mäuler hatten einen langsamen Metabolismus und sehr kleine Gehirne, und sie verließen die Bauten nur, wenn sie den Drang zur Paarung verspürten. Sie stellten kaum Ansprüche ans Leben und waren auf ihre Weise zufrieden.
So schlauen Geschöpfen wie Ultima und Kaktus fiel es aber nicht schwer, den Ratten-Mäulern auszuweichen. Seite an Seite gingen die Gefährtinnen weiter.
Sie kamen zu einer schmalen Rinne; sie war fast völlig mit Geröll verstopft, das das Regenwasser hier abgelagert hatte. Aber es floss immer noch ein Rinnsal salzigen Wassers. Ultima und Kaktus gingen in die Hocke, wobei Ultima das Baby abschirmte, und dann tauchten sie das Gesicht ins Wasser und tranken dankbar.
Ultima fand etwas Grünes in der Feuchtigkeit. Es war eine Art Blatt – länglich, dunkel und leicht gewölbt. Die Form war uralt und sogar zu primitiv, um auf die Idee zu kommen, dem Licht entgegen zu streben. Es handelte sich um den Abkömmling eines Lebermooses, das sich im Lauf der Zeit kaum verändert hatte. Es war eine fast unveränderte Kopie einer der ersten Pflanzen, die das Land kolonisiert hatten – ein Land, das sich nicht allzu sehr von diesem unwirtlichen Ort unterschieden hatte. Die Geschichte hatte sich wiederholt, und das Lebermoos hatte einen Lebensraum gefunden. Neugierig zupfte Ultima das Blatt vom Stein, an dem es haftete. Sie kaute es – es schmeckte wachsartig und klebrig –, küsste ihr Kind und fütterte es mit dem Blatt. Das Baby schlürfte es mit einem saugenden Geräusch und rollte dabei die kleinen Augen.
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