Der Beton der Treppe war – sofern er noch freilag – an den Stellen braun gefärbt, wo das Geländer verrostet und abgebrochen war. Und als Snowy das Gewicht zu nah an die Kante einer Stufe verlagerte, zerbröselte der Beton. Die Stufen selbst waren unter einem Gewirr aus Moos, Laub und Schutt aller Art kaum zu sehen. Snowy wollte das Zeug zuerst beseitigen und stellte dann fest, dass es aus einer Mulchschicht auf dem Beton wuchs.
Also ignorierte er das Gewirr und ging unverdrossen die Treppe hinauf.
Schließlich stand er auf dem laubbedeckten Erdboden. Er schnaufte angestrengt. Offenbar hatte der Kälteschlaf ihn doch stärker ausgezehrt, als er erwartet hätte. Die anderen folgten ihm der Reihe nach und klopften sich Laub, Moos und Mulch von der Kombination.
Der Wald bestand aus hohen Bäumen, deren tief hängende Äste dicht mit Blättern besetzt waren. Eichen vielleicht. Es ging ein Wind, der Snowy warme Luft ins Gesicht fächelte. Es schien später Frühling oder Frühsommer zu sein. Die Luft roch frisch, nach nichts anderem als Wald und Natur pur.
Die Grube war in den Boden versenkt und halb durch einen großen Betondeckel verborgen. Doch der Deckel war nun schräg angehoben, gesprungen und Pflanzen wuchsen aus der Oberfläche.
Ahmed trug einen kleinen schwarzen Tornister. Es war ein Funkgerät, das wie die Pistolen in Öl gelagert gewesen war. Nun schaltete er es ein, zog die Antenne aus und ging auf der Lichtung umher.
Moon und Bonner wirkten sehr jung und ängstlich, verloren im grünen Zwielicht.
Sidewise kam zu Snowy. Verdrießlich trat er gegen den Betonpanzer. »Es ist erstaunlich, dass die Stromversorgung nach dieser Zeit noch funktioniert.«
»Als ob wir gerade aus Tschernobyl gekrochen wären«, sagte Snowy.
»Ich glaube nicht, dass Tschernobyl überhaupt noch ein Problem ist.«
»Was?«
»Snow, was glaubst du, wie lang wir in diesem Loch gesteckt haben?«
»Mehr als fünfzig Jahre?«, riet Snowy.
Sidewise grunzte. »Schau dich doch mal um, Kumpel. Diese Bäume sind Eichen. Und schau dir das an.« Er führte Snowy zu einem umgestürzten Baum. Der Baum war vielleicht einen Meter überm Boden abgebrochen. Der umgestürzte Baumstamm war fast auf ganzer Länge mit Grün überwuchert, und dicke tellerartige Pilze klebten wie ins Holz gerammte Scheiben an der Oberseite. »Snow«, sagte Sidewise, »du bist von einem alten Wald umgeben. Das sind alte Bäume. Dieser hier ist aus Altersschwäche umgestürzt und nicht gefällt worden. Komm schon, Snow. Du erinnerst dich doch noch an die Ökologiekurse während der Ausbildung? Was passiert, wenn eine Waldlichtung sich selbst überlassen wird?«
Die Gräser und Kräuter wären die ersten, die den leeren Raum kolonisierten. Nach etwa einem Jahr würden Kiefern- und Birkenschösslinge und andere Laubbäume aus den im Boden verbliebenen Samen und aus Baumstümpfen sprießen. Und wenn es erst einmal einen gewissen Frostschutz gab, würden Fichten und Walnussbäume Fuß fassen. In dem Maß, wie die Bedingungen sich änderten, würden verschiedene Arten um Licht und Raum konkurrieren. Nach vielleicht fünfzig Jahren, wenn der sich erholende Wald dunkler wurde, würden die Gräser am Boden Nachtschattengewächsen wie Himbeeren und Moosen weichen. Und dann erst würden die Eichen zurückkehren.
Snowy hatte sich in der Schule, während der Ausbildung und auch später, nur wenig für diese Materie interessiert. Dieser Ökokram war nämlich so deprimierend, nichts als Verlustlisten von Tierarten. Aber – wie lange?
Sidewise stocherte auf dem am Boden liegen Baumstamm herum. »Schau dir diese Bryophyten an – die Moose und das Lebermoos – und die Flechten, Pilze und Insektenlöcher… in unsrer Zeit war der Anblick eines toten Baumstamms so selten wie ein Wolf, musst du wissen.«
»In unsrer Zeit?«
Ahmed hatte seine Wanderung über die Lichtung beendet. »Nichts«, sagte er. »Keinen Piep auf irgendeiner Frequenz. Nicht einmal GPS.«
»Vielleicht ist das Gerät ausgeschaltet«, sagte Moon.
Ahmed drückte einen grünen Knopf am Gerät. »Der Selbsttest war erfolgreich.«
»Was sollen wir nun tun?«, fragte Bonner.
Ahmed straffte sich. »Wie sichern unser Überleben. Wir verlassen diesen verdammten Wald. Und suchen jemanden, dem wir Meldung machen.«
Snowy nickte. »Welche Richtung?«
»Die Karten«, sagte Bonner plötzlich.
Sie besannen sich wieder auf ihre Ausbildung und eilten zur Grube zurück.
Die Gruben waren draußen mit Landkarten-Depots versehen worden, für den Fall, dass ein Trupp wieder belebt wurde, ohne von außen Anweisungen und Orientierungshilfen zu erhalten. Die Karten hätten sich wettergeschützt in Kästen an der Außenseite der Grube befinden müssen. Außerdem hatten den Karten spezifische Anweisungen beigelegen. Snowy wusste, dass sie sich alle gleich viel wohler fühlen würden, wenn sie eine Handreichung bekamen und vielleicht sogar einen Hinweis auf die aktuelle Lage.
Doch so gründlich sie auch suchten, sie fanden nicht einmal eine Spur der Kartenbehälter. Da war nichts außer einer mürben, zerbröselnden Betonwand, die von Moosen und Gräsern überwuchert wurde.
Sidewise half bei der Suche, doch Snowy sah, dass er nicht bei der Sache war. Er hatte gewusst, dass die Karten nicht mehr da sein würden. Snowy begann sich vor Sidewise zu fürchten, weil er einen so großen Vorsprung im Spiel hatte; und er wollte auch gar nicht wissen, was Sidewise bereits wusste.
Sie gaben die Suche nach den Karten auf. Dennoch versuchte Ahmed, die Disziplin aufrechtzuerhalten und Entscheidungen zu treffen, und Snowy bewunderte ihn dafür. Ahmed sog prüfend die Luft ein, ließ den Blick schweifen und streckte dann den Arm aus. »Das Land steigt in dieser Richtung an. Also werden wir diese Richtung einschlagen. Wenn wir Glück haben, werden wir aus diesem Wald herauskommen. Einverstanden?«
Die Antwort war ein allgemeines Achselzucken und Kopfnicken.
Es gab nicht viel aus der Grube mitzunehmen außer dem, was sie bei den Toten fanden: Sie suchten alle Waffen und die ganze Munition zusammen, überschüssige Kleidung und Rationspäckchen. Dann funktionierten sie die nicht benötigten Fliegerkombis zu Rucksäcken um und verluden die Ausrüstung.
Sie marschierten in die Richtung los, die Ahmed bestimmt hatte. Die Sonne schien unterzugehen, und das bedeutete nach Snowys Dafürhalten, dass sie sich in grob nördlicher Richtung bewegten. Falls sich nicht auch die Himmelsrichtungen in all den Jahren verändert hatten, in denen sie in der Grube eingeschlossen waren.
Der Wald wurde von den mächtigen Eichen beherrscht, dazwischen wuchsen andere Arten wie Platanen, Ahorn und Koniferen. Snowy hatte den Eindruck, dass es viele Vögel gab, vor allem Stare, und dann sah er ein Gestöber aus grünen und gelben Schwingen an der Sonne vorbeiziehen. Gelegentlich sahen sie auch andere Tiere – Kaninchen, Eichhörnchen, kleine scheue Rehe und sogar etwas, das wie ein Wolf aussah –, wobei sie jedes Mal nervös zur Waffe griffen.
Nach vielleicht einer Stunde kamen sie zu einem runden Loch in der Erde. Es war voll Schutt, doch offensichtlich von Menschen ausgehoben. Diese Spur menschlichen Wirkens erregte sofort ihre Aufmerksamkeit. Sie versammelten sich um das Loch und tranken Wasser aus den kleinen Flaschen, die sie bei sich hatten.
»Hast du diese grünen Vögel gesehen?«, wandte Snowy sich an Sidewise. »Sie sahen aus wie…«
»Wellensittiche. Die Nachkommen entflogener Haustiere. Wieso nicht? Es gibt wahrscheinlich auch Wellensittiche und Papageien. Ein paar von diesen hirschartigen Tieren schienen Muntjaks zu sein. Vielleicht aus Zoos. Sogar die Bäume sehen zum Teil wie Importe aus, zum Beispiel wie diese türkische Eiche hier. Wie hieß es doch noch: Wenn man das Gleichgewicht der Natur erst einmal stört und fremde Arten einführt, ist dies nicht mehr rückgängig zu machen.«
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