Alyce lächelte. Sie war selbst verschwitzt und erschöpft wie eine stolze Tante. »Bei Gott, sehen Sie nur – auf ihre Art und Weise kommuniziert sie schon mit uns. Sie ist schon ein richtiger Mensch.«
»Ich glaube, sie will nuckeln. Aber ich habe noch keine Milch, oder?«
»Legen Sie sie trotzdem an die Brust«, riet Alyce ihr. »Dadurch wird die Bildung von Oxytocin angeregt.«
Nun erinnerte Joan sich wieder an die Kurse für werdende Mütter. »Wodurch der Uterus sich zusammenzieht, die Blutung verringert und das Ausstoßen der Plazenta unterstützt wird.«
»Machen Sie sich deswegen keine Sorgen«, sagte ein Raumanzug. »Wir haben Ihnen schon eine Spritze gegeben.«
Joan legte das Kind an die Brust. »Schauen Sie nur. Sie macht schon Greifbewegungen. Und es ist, als ob sie Schritte macht. Ich spüre ihre Füße.«
»Wenn Sie eine behaarte Brust hätten, würde sie sich wahrscheinlich daran festhalten und auf Ihnen umher kriechen. Und wenn Sie eine ruckartige Bewegung machten, würde sie umso fester zupacken.«
»Für den Fall, dass ich durch den Wald rennte… Schauen Sie, sie beruhigt sich.«
»Warten Sie noch zwanzig Minuten, und sie wird Ihnen die Zunge rausstrecken.«
Joan hatte das Gefühl zu schweben, als ob nichts mehr real wäre außer dem verletzlichen warmen Bündel in ihren Armen. »Ich weiß, dass das alles angeboren ist. Ich weiß, dass ich umprogrammiert wurde, damit ich diesen feuchten kleinen Parasiten nicht abschüttle. Und doch…«
Alyce legte Joan die Hand auf die Schulter. »Und doch hat Ihr ganzes Leben sich darum gedreht, nur dass Sie es nicht gewusst haben.«
»Ja.«
Ein Piepen ertönte. Alyce zog ein Mobiltelefon aus der Tasche. Auf dem Display erschienen helle Bilder und schemenhafte Bewegung.
»Wir haben das Krankenhaus gleich erreicht«, sagte ein Raumanzug zu Joan. »Sie brauchen keine Angst zu haben. Es gibt dort einen sicheren, geschützten Eingang.«
Joan wiegte das Baby. »Dann ist Lucy gerade durch einen langen dunklen Tunnel gegangen, nur um gleich wieder den nächsten zu betreten.«
Der Raumanzug hielt inne. »Lucy?«
»Welcher Name wäre passender für ein Primaten-Mädchen?«
Alyce rang sich ein Lächeln ab. »Joan, Sie sind nicht die einzige neue Mutter.«
»Wie?«
»Ian Maughans Robot-Arbeiter auf dem Mars ist es gelungen, eine voll funktionsfähige Kopie von sich selbst zu bauen… Er hat es geschafft, sich zu reproduzieren. Dem Tenor des Texts nach zu urteilen ist er sehr glücklich.«
»Er hat Ihnen das getextet?«
»Sie wissen doch, wie diese Leute sind. Der Rest der Welt kann zum Teufel gehen, solang ihre neusten Gimmicks nur planmäßig funktionieren… Oh. Die Viert-Weltler haben Alison Scotts Schimäre getötet. Ich kann mir vorstellen, dass sie sie für eine Entartung gehalten haben. Aber ich frage mich, wofür sie sich gehalten hat.«
»Ich glaube, sie wollte nur Sicherheit, wie wir alle.«
Joan schaute auf ihr Baby. Vor ein paar Herzschlägen war eine neue Welt entstanden – während eine andere unterging.
»Wir waren dicht dran, oder, Alyce? Die Konferenz und das Manifest. Es hätte funktionieren können, nicht wahr?«
»Ja, das glaube ich auch.«
»Wir hatten nur zuwenig Zeit, das war alles.«
»Ja. Und wir hatten obendrein Pech. Aber wir dürfen die Hoffnung nicht aufgeben, Joan.«
»Nein. Die dürfen wir nie aufgeben.«
Der Krankenwagen hielt an. Die Türen wurden aufgerissen und kühle Luft strömte herein. Noch mehr Raumanzüge erschienen, schoben Alyce beiseite und legten Joan auf eine Trage. Sie wollten ihr das Baby abnehmen, aber sie gab es nicht her.
Die Geologen hatten schon lange gewusst, dass die Erde für einen großen Vulkanausbruch überfällig war.
Der Ausbruch von Rabaul im Jahr 2031 war nicht die stärkste bekannte Eruption und nicht einmal die schlimmste seit dem Beginn der Aufzeichnungen. Dennoch war Rabaul viel stärker gewesen als der Ausbruch des Pinatubo auf den Philippinen im Jahr 1991, wodurch die Erde sich um ein halbes Grad abgekühlt hatte. Er war auch schlimmer als die Explosion des Tambora in Indonesien im Jahr 1815, das in Amerika und Europa als das ›Jahr ohne Sommer‹ gegolten hatte. Rabaul war das größte vulkanische Ereignis seit dem sechsten Jahrhundert nach Christi und eins der größten der letzten fünfzigtausend Jahre. Rabaul war respektabel.
Klimaänderungen verliefen nicht immer gleitend und verhielten sich auch nicht immer proportional zur Ursache. Die Erde neigte zu plötzlichen und drastischen Änderungen des Klimas und der Ökologie und zum abrupten Wechsel von einem stabilen Zustand in den anderen, sodass selbst kleine Störungen unter Umständen gravierende Auswirkungen hatten.
Rabaul war eine solche Störung. Und es sollte keine kleine Störung werden.
Es war allerdings nicht Rabauls Schuld. Der Vulkan brachte das Fass nur zum Überlaufen. Durch das enorme Bevölkerungswachstum waren alle Ökosysteme ohnehin schon bis zur Bruchgrenze beansprucht. Es war nicht einmal Pech. Wenn es nicht Rabaul gewesen wäre, dann eben ein anderer Vulkan, ein Erdbeben, ein Asteroid oder sonst etwas.
Und als die natürlichen Grundlagen des Planeten zusammenbrachen, mussten die Menschen feststellen, dass sie noch immer nur in ein Ökosystem eingebettete Tiere waren; und als es starb, starben auch sie.
Derweil arbeiteten auf dem Mars die Roboter weiter. Geduldig verwandelten sie das trübe Sonnenlicht und den roten Staub und die Kohlendioxid-Luft in Fabriken, die ihrerseits Kopien der Roboter selbst produzierten, mit gelenkigen Beinen, Solarzellen-Panzern und Silizium-Gehirnen.
Die Roboter übermittelten den Arbeitsfortschritt an ihre Schöpfer auf der Erde. Es kam keine Antwort. Aber sie arbeiteten trotzdem weiter.
Unter dem blutorangefarbenen Himmel des Mars kamen und vergingen die Generationen in schneller Folge. Natürlich war keine Replikation, ob biologisch oder mechanisch, jemals perfekt. Manche Varianten arbeiteten besser als andere. Und die Roboter waren aufs Lernen programmiert – sie sollten übernehmen, was funktionierte und eliminieren, was nicht funktionierte. Die Schwachen starben aus. Die Starken überlebten und gaben die konstruktiven Neuerungen an die nächste mechanische Generation weiter.
So hatten Variation und Selektion sich etabliert.
Und die Roboter arbeiteten weiter und weiter, bis die alten Meeresböden und Schluchten mit glänzenden insektenartigen Metallpanzern bedeckt waren.
KAPITEL 17
Ein langer Schatten
Ort und Zeit unbekannt
Aus einem Kälteschlaf zu erwachen war etwas ganz anders, als wenn man im eigenen Bett neben seiner Frau aufwachte. Es war eher so, als sei man in einen großen Bottich mit einer klebrigen Flüssigkeit geworfen worden und würde allmählich wieder auftauchen.
Doch nun riss der Nebel auf, und ein sich vergrößernder Kreis aus Licht zentrierte sich um ein verschwommenes Gesicht. Das Gesicht gehörte zu Ahmed, dem Splot – dem Chefpiloten – und nicht dem Kommandierenden Offizier. Das war für Snowy das erste Anzeichen, dass etwas nicht stimmte.
»Alles in Ordnung? Bist du in Ordnung?«, fragte Ahmed. Bevor er die Injektion bekam, hatte Snowy verschiedene Reaktionen auf den Weckruf geprobt. Er lächelte und hob den Mittelfinger der rechten Hand. »Jede Landung, nach der man noch auf eigenen Beinen zu gehen vermag, ist eine gute Landung.« Seine Stimme klang wie ein Reibeisen; sein Mund war völlig ausgedörrt.
»Noch gehst du aber nicht, Klugscheißer«, sagte Ahmed grimmig.
»Wo ist Barking?« Robert Madd, der mit einem der weniger originellen Spitznamen der Royal Navy gesegnet war, war der Kommandierende Offizier der Einheit.
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