Alyce klammerte sich an Joan. »O Gott, o Gott.«
Der Rauch verdichtete sich und nahm ihnen die Sicht. John hustete wie ein Kettenraucher. Der Schmerz überkam sie erneut und schoss durch Unterleib und Rücken. Sie hielt sich an Alyce fest. »Ist Ihnen schon einmal der Gedanke gekommen, wie maladaptiv kollektiver Selbstmord ist?«
»Um Gottes willen, Joan…«
»Ich meine, für den Selbstmord einer Einzelperson kann es aus biologischer Sicht manchmal eine Rechtfertigung geben. Vielleicht werden ihre Angehörigen durch Selbstmord von einer Last befreit. Aber welchen biologischen Sinn hätte ein Gruppenselbstmord? Die Fähigkeit, an kulturelle Diktate zu glauben, ist adaptiv. Das muss so sein, oder wir würden sie gar nicht erst haben. Doch manchmal läuft der Mechanismus aus dem Ruder…«
»Wir sind verrückt. Ist es das, was Sie sagen wollen? Dass wir alle verrückt sind. Da stimme ich Ihnen zu.«
»Ma’am, bitte kommen Sie mit mir.« Ein Schemen erschien vor ihr. Er sah aus wie ein Soldat in einem Raumanzug, der nach ihr griff.
Erneut schoss Schmerz durch sie und löschte das klare Denkvermögen aus. Sie fiel gegen Alyce Sigurdardottir. Sie hörte eine weitere Explosion. Sie glaubte, sie käme von der Militäroder Polizeiaktion.
Aber sie irrte sich. Das war Rabaul gewesen.
Als das Meer in die Magmakammer eingedrungen war, wurde die Explosion unvermeidlich.
Magmabrocken wurden schneller als der Schall in die Luft geschleudert und erreichten eine Höhe von bis zu fünfzig Kilometern. Dort zerbrachen sie beim Erstarren in Fragmente, die von winzigen Aschepartikeln bis zu Brocken mit einem Durchmesser von einem Meter reichten. Durchsetzt wurde dieses Gemisch von Trümmerstücken des zerstörten Bergs. Diese Felsbrocken waren weit über die Troposphäre hinaus geschleudert worden, weit über die Gipfelhöhe von Flugzeugen und Ballons und sogar über die Ozonschicht hinaus. Die Bruchstücke von Rabaul vermengten sich mit Meteoriten und verglühten. Es war ein Himmel voller Steine.
Und auf der Erde breitete die Schockwelle sich mit doppelter Schallgeschwindigkeit von der zerstörten Caldera aus. Man hörte sie erst, als sie schon da war, und sie machte alles auf ihrem Weg dem Erdboden gleich: Häuser, Tempel, Bäume und Brücken. Auf ihrem Durchgang gab sie Energie an die Luft ab, verdichtete sie und heizte sie auf zu enormen Temperaturen. Alles Brennbare ging in Flammen auf.
Die Menschen sahen die Schockwelle kommen, aber sie vermochten sie nicht zu hören und schon gar nicht vor ihr zu fliehen. Sie verbrannten einfach wie ein vom Blitz getroffener Baum. Und das war erst der Anfang.
Soldaten in Monturen wie Raumanzügen trugen Joan aus der raucherfüllten Bar und aus dem Hotel ins Freie. Man legte sie auf eine Trage und beförderte sie im Laufschritt zum Parkplatz. Um sie herum herrschte hektische Betriebsamkeit: Menschen rannten umher, Fahrzeuge rasten übers Flugfeld und Helikopter ratterten in einem orangefarbenen Himmel.
Dann verfrachtete man sie in einen Kleinbus. Ein Krankenwagen? Eins, zwei, drei, hoch. Die Trage rutschte in den Innenraum des Fahrzeugs neben eine Art schmaler Koje. Die Wände waren mit einer unbekannten Ausrüstung gesäumt, die aber nicht piepte und summte, wie sie es aus den Krankenhaus-Seifenopern kannte, die sie früher so gern gesehen hatte.
Sie wedelte mit der Hand. »Alyce.«
Alyce nahm ihre Hand. »Ich bin hier, Joan.«
»Ich fühle mich wie eine Amphibie, Alyce. Ich schwimme in Blut und Urin, aber ich atme die Luft der menschlichen Kultur. Weder Fleisch noch Fisch…«
Alyces eingefallenes Gesicht erschien über ihr. Sie wirkte abwesend und ängstlich zugleich. »Was? Was haben Sie gesagt?«
»Wie spät ist es?«
»Joan, sparen Sie Ihren Atem. Sie werden ihn noch brauchen; ich spreche aus Erfahrung.«
»Ist es Tag oder Nacht? Ich habe jedes Zeitgefühl verloren. Anhand des Himmels vermag ich es auch nicht zu sagen.«
»Meine Uhr ist kaputt. Nacht, glaube ich.«
Jemand machte sich an ihren Beinen zu schaffen – schnitt die Kleidung auf? Der Krankenwagen setzte sich in Bewegung, und sie hörte das entfernte Wimmern einer Sirene wie das Heulen eines im Nebel verlorenen Tiers. Alles, was sie sah, war das dunkel lackierte, nackte Blechdach des Fahrzeugs, diese bedeutungslosen Ausrüstungsgegenstände und Alyces schmales Gesicht.
»Hören Sie, Alyce.«
»Ich bin hier.«
»Ich habe Ihnen noch gar nicht die wahre Geschichte meiner Familie erzählt.«
»Joan…«
»Falls ich das hier nicht überlebe«, sagte sie scharf, »erzählen Sie meiner Tochter, woher sie kam.«
Alyce nickte verstehend. »Sie sind als Sklaven nach Amerika gekommen.«
»Mein Urgroßvater hat die Geschichte rekonstruiert. Wir stammten aus dem heutigen Namibia, aus der Gegend von Windhuk. Wir waren San, die so genannten ›Buschmänner‹. Wir wären fast von den Bantu ausgerottet worden, und in der Kolonialzeit wurden wir wie Ungeziefer getötet. Aber wir bewahrten uns dennoch einen Teil unserer kulturellen Identität.«
»Joan…«
»Alyce, aus Genfrequenz-Untersuchungen geht hervor, dass der weibliche DNA-Strang der San-Frauen viel stärker differenziert ist als überall sonst bei Frauen auf der Erde. Daraus folgt, dass die San-Gene schon viel länger im südlichen Afrika vorkommen als alle anderen Gene sonst wo auf der Erde. Die Leute der San-Ahnenreihe sind diejenigen, die der direkten Abstammungslinie von unserer gemeinsamen Urmutter, der mitochondrischen Eva, am nächsten stehen.«
Alyce nickte. »Ich verstehe. Dann ist Ihr Kind also einer der jüngsten Menschen auf dem Planeten und zugleich der älteste.« Alyce nahm ihre Hand. »Ich verspreche, dass ich es ihr sagen werde.«
Der Schmerz kam nun in Wellen. Sie hatte das Gefühl, als ob das Bewusstsein sich auflöste, und sie versuchte einen klaren Gedanken zu fassen. »Wissen Sie, statistisch gesehen finden menschliche Geburten in der Regel nachts statt. Ein uraltes Primaten-Merkmal, als Kinder noch in der Sicherheit eines Baumkronen-Nests geboren wurden oder wenigstens im Schutz der Dunkelheit.«
»Joan…«
»Lassen Sie mich reden, verdammt. Reden lindert den Schmerz.«
»Medikamente lindern den Schmerz.«
»Au! Jetzt geht’s aber los. Ist eine Hebamme in dieser verdammten Karre?«
»Das sind alles ausgebildete Rettungssanitäter. Sie brauchen keine Angst zu haben.«
»Ich glaube, meine Tochter will unbedingt einen Blick in diesen Krankenwagen werfen.«
»Sie wissen, wie es gemacht wird. Atmen. Pressen.«
Sie atmete und schnaufte stoßweise.
Alyce behielt den Schauplatz des Geschehens im Auge. »Sie machen das gut.«
»Selbst wenn ich das Becken einer Pithecinen habe.«
»Sie sind wirklich eine Ulknudel, Joan Useb.«
»Jetzt nicht mehr.«
»Sie kommt. Sie kommt.«
Die Schädelknochen des Babys waren weich, und so vermochte sich der große Homo Sapiens-Schädel unter dem Druck, mit dem er durch den Geburtskanal gepresst wurde, zu verformen. Und es vermochte bis zum Moment der Geburt ohne Sauerstoff auszukommen. Diese letzten Momente waren die extremste körperliche Umwandlung, die es bis zum Augenblick des Todes selbst erfahren würde. Jedoch wurde der Körper des Babys mit Opiaten und Analgetika geflutet. Es verspürte keinen Schmerz, nur die Fortsetzung des langen Gebärmutter-Traums, aus dem sich sein Selbst, seine Identität allmählich herauskristallisiert hatte.
Ein mit einem Raumanzug bekleideter Sanitäter nahm Joans Kind, blies ihm in die Nase und gab ihm einen Klaps auf den Rücken. Ein kräftiges Schreien erfüllte den Krankenwagen. Das feuchte kleine Würmchen wurde schnell in eine Decke gewickelt und Joan übergeben.
Die erschöpfte Joan berührte staunend die Wange ihrer Tochter. Das Kind drehte den Kopf und machte saugende Mundbewegungen.
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