»Rentiere verstehen freilich nichts von Ökologie«, rief jemand.
»Wir haben das im Lauf der Geschichte aber auch getan«, sagte Scott ungerührt. »Das Beispiel der polynesischen Inseln ist allgemein bekannt. Und die orientalische Stadt Petra…«
Wie Joan gehofft hatte, zerfiel die Gruppe in kontrovers diskutierende Grüppchen.
»… die Schuld dieser Menschen der Vergangenheit, die unfähig waren, ihre Ressourcen zu verwalten, bestand nur in der Unfähigkeit, ein schwieriges ökologisches Problem zu lösen…«
»… Wir bewältigen bereits Energie- und Masseströme in einem Maßstab, der natürlichen Prozessen gleichkommt. Nun müssen wir diese Prozesse eben steuern…«
»… Es ist aber riskant, an die Grundlagen eines ohnehin schon überfüllten Planeten zu rühren…«
»… All diese technischen Maßnahmen würden selbst Energie kosten und würden die Erwärmung des Planeten noch verstärken…«
»… Unsre Zivilisation hat keine gemeinsame Agenda. Welche Lösung würden Sie für die politischen, rechtlichen, kulturellen und finanziellen Aspekte denn anbieten, die sich aus Ihren Vorschlägen ergeben…?«
»… Diesen technokratischen Mist höre ich schon seit Jahrzehnten! Was ist das hier, eine NASA-Kollekte?«
»… Ich sage, scheiß aufs Ökosystem. Wer braucht denn noch Frösche und Kröten? Ich plädiere für eine drastische Vereinfachung. Man müsste nur CO 2absorbieren, Sauerstoff produzieren und die Wärme regulieren. Das kann doch nicht so schwer sein.«
»… Meine Dame, wollen Sie wirklich in einer Blade Runner-Welt leben?«
Joan musste erneut um die Aufmerksamkeit der Gruppe bitten. »Wir brauchen eine gemeinsame Willensanstrengung und müssen in einem nie gekannten Maß alle Kräfte mobilisieren.
Aber vielleicht müssen wir die richtige Lösung erst noch finden.«
»Genau«, sagte Alison Scott und erhob sich wieder. Sie legte ihren beiden Töchtern die Hände auf das glänzende türkisfarbene Haar. »Engineering ist ein ausgeträumter Traum des zwanzigsten Jahrhunderts. Die Lösung liegt nicht da draußen, sondern wir müssen sie in uns finden.«
Diese Äußerungen stießen auf offene Ablehnung. »… Sie meint damit, Babys zu klonen, wie ihre beiden kleinen Freaks…«
»Ich spreche von Evolution«, sagte Scott barsch. »Das geschieht nämlich mit einer Spezies, wenn ihre Umwelt sich verändert. Im Lauf unsrer Geschichte haben wir uns als eine erstaunlich anpassungsfähige Spezies erwiesen.«
Eine schwarze Frau in den Sechzigern stand auf. Joan kannte sie: Sie hieß Evelyn Smith und war eine der prominentesten Evolutionsbiologinnen ihrer Zeit. »Bei menschlichen Populationen ist schon seit ein paar Dutzend Jahrtausenden keine natürliche Auslese mehr erfolgt«, sagte sie kalt. »Anderslautende Behauptungen sind ein Beleg dafür, dass der zugrunde liegende Mechanismus nicht verstanden wurde. Wir unterdrücken nämlich die Prozesse, die die Selektion vorantreiben: Unsre Waffen haben Räuber eliminiert, der landwirtschaftliche Fortschritt hat den Hunger eingedämmt und so weiter. Aber das wird sich ändern, wenn der bevorstehende Kollaps eintritt. Und dann wird auch die Selektion wieder in Gang gesetzt. Davon handelt zufällig auch mein Vortrag im Seminar Drei.«
Das rief Protest hervor.
»… was soll das heißen, ›bevorstehender Kollaps‹?«
»… Trotz des oberflächlichen Glanzes weist unsre Gesellschaft Symptome des Niedergangs auf: zunehmende soziale Ungleichheit, abnehmender Grenzertrag des Wirtschaftswachstums, Niedergang des Bildungswesens und der geistigen Leistungen…«
»… Ja, und der Tod des Spirituellen. Selbst wir Amerikaner legen nur Lippenbekenntnisse gegenüber Werten ab – der Flagge, der Verfassung und der Demokratie. Stattdessen lassen wir es zu, dass die Konzerne Macht über unser Leben erlangen und trösten uns mit Mystizismus und esoterischem Firlefanz. Das ist aber kein einmaliger Vorgang. Die Parallelen zum alten Rom sind unübersehbar…«
»… Nur dass wir nun durch die Globalisierung weltweit in einem Boot sitzen. Falls der Zusammenbruch kommt, wird vielleicht nicht mehr viel Asche da sein, aus der wir wie Phönix wieder aufsteigen könnten…«
»… Eine absurd pessimistische Annahme – wir haben früher schon ähnliche Situationen bewältigt…«
»… Wir haben alle leicht zugänglichen Bodenschätze ausgebeutet und verheizt; falls wir abstürzen, hätten wir nichts mehr, auf dem wir wieder aufbauen könnten…«
»Worauf ich hinaus will«, sagte Smith, »ist, dass wir nicht mehr viel Zeit haben.«
Diese leise gesprochenen Worte brachten zunächst alle zum Schweigen, und Joan sah ihre Gelegenheit gekommen.
»Wenn wir also nicht in die alten Zeiten zurückfallen wollen, als wir nur ein Tier unter vielen in der Ökologie waren, müssen wir einen Ausweg aus diesem Schlamassel finden. Und ich glaube auch, dass es einen solchen Ausweg gibt.«
Sie strich sich abwesend über den Bauch und lächelte. »Einen neuen Weg. Und zugleich ein Weg, den wir längst kennen. Der Weg der Primaten.«
Und sie skizzierte ihre Vision.
Die menschliche Kultur, sagte Joan, sei eine Adaption gewesen, um den Menschen während der Klimakapriolen des Pleistozäns das Überleben zu ermöglichen. Doch nun führte diese Kultur durch Rückkopplung in einer epochalen Ironie zu einer noch größeren Umweltkatastrophe. Die Kultur, die einst so überaus adaptiv gewesen war, war nun maladaptiv geworden und würde sich ändern müssen.
»Das Leben ist nicht nur Konkurrenz«, sagte sie. »Es ist auch Kooperation. Gegenseitige Abhängigkeit. Das ist es immer schon gewesen. Die ersten Zellen waren auf die Kooperation mit den einfacheren Bakterien angewiesen. Das galt auch für die ersten Ökologien, den Stromatolithen. Und heute ist unser Leben so von gegenseitiger Abhängigkeit geprägt, dass wir in Zukunft alle an einem Strang ziehen müssen.«
»… Sie sprachen gerade von Globalisierung. Von welcher Firma werden Sie gesponsert?«
»… Wir kehren zu Gäa und anderen Erdgöttinnen zurück, nicht wahr?«
»Unsre globale Gesellschaft ist mittlerweile so sehr vernetzt, dass sie zu etwas in der Art eines Holon wird«, sagte Joan. »Eine einzige, zusammengesetzte Wesenheit. Wir müssen lernen, uns als solche zu betrachten. Wir müssen uns auf die andere Hälfte unsrer Primatennatur stützen, die eben nicht von Konkurrenzdenken und Fremdenfeindlichkeit geprägt ist. Primaten neigen viel eher zur Kooperation als zur Konkurrenz. Schimpansen tun es, Lemuren tun es, Pithecinen und Neandertaler müssen es getan haben, und wir tun es. Die menschliche Interdependenz ist sozusagen ein konstituierendes Merkmal unsrer Geschichte. Und ohne dass wir es geplant hätten, haben wir die Biosphäre ursurpiert – und wir müssen lernen, sie gemeinsam zu verwalten.«
Alison Scott erhob sich wieder. »Was genau wollen Sie eigentlich, Joan?«
»Ein Manifest. Einen Aufruf. Ein Schreiben an die UN, von uns allen unterzeichnet. Wir müssen den Anfang machen und etwas Neues beginnen. Wir müssen den Weg in eine nachhaltige Zukunft bereiten. Wer, wenn nicht wir?«
»… Hurra, wir retten die Welt…«
»… Sie hat Recht. Gäa wird nicht unsere Mutter, sondern unsre Tochter sein…«
»… Was veranlasst Sie überhaupt zu der Annahme, einer der Mächtigen würde auf einen Haufen Wissenschaftler hören? Das haben sie noch nie getan. Sie leben in einem Wolkenkuckucksheim…«
»Sie werden schon auf uns hören, wenn ihnen das Wasser bis zum Hals steht«, sagte Evelyn Smith.
Alyce Sigurdardottir erhob sich. »Konfuzius sagte: ›Wer behauptet, es könne nicht getan werden, möge denjenigen Platz machen, die es doch tun.‹« Sie reckte die kleine Faust zum Black Power-Gruß. »Wir sind nach wie vor nur Primaten. Stimmt’s?«
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