Wie Athalarich schon erwartet hatte, lehnte Honorius das Angebot rundweg ab. »Will die Kirche uns denn alle usurpieren?«, echauffierte er sich. »Muss ihr Schatten auf die ganze Welt fallen und alles verdunkeln, was wir in über tausend Jahren geschaffen haben?«
Athalarich seufzte. Er hatte kaum eine Ahnung, wovon der alte Mann überhaupt sprach, aber wenn er mit Honorius sprechen wollte, musste er sich auf ihn einlassen. »Honorius, bitte – das hat nichts mit Geschichte zu tun, nicht einmal mit Theologie. Es geht hier nur um befristete Macht. Und um Bürgerpflicht.«
»Bürgerpflicht? Was soll das denn heißen?« Aus einem Beutel holte er den uralten menschlichen Schädel, den der Skythe ihm gegeben hatte und fuchtelte ärgerlich damit herum. »Dies war eine Kreatur, halb Mensch und halb Tier. Und doch war sie eindeutig wie wir. Aber was sind dann wir? Ein viertel Tier, ein Zehntel? Der Grieche Galen hat vor zwei Jahrhunderten gesagt, der Mensch sei nicht mehr als eine Spielart des Affen. Werden wir jemals aus dem Schatten des Tiers heraustreten? Was würde ›Bürgerpflicht‹ für einen Affen bedeuten außer irgendwelche Mätzchen?«
Zögerlich berührte Athalarich den alten Mann am Arm. »Aber selbst wenn das wahr wäre, selbst wenn wir vom Vermächtnis einer tierischen Vergangenheit regiert würden, müssen wir uns so verhalten, als ob es nicht wahr wäre.«
Honorius lächelte gezwungen. »Wirklich? Aber alles, was wir erschaffen, ist vergänglich, Athalarich. Wir sehen es doch selbst. In meiner Lebenszeit ist ein tausendjähriges Reich schneller zerfallen, als der Mörtel in den Mauern Roms zerbröselte. Wenn alles vergänglich ist außer unserer grausamen Natur, worauf sollen wir dann überhaupt noch hoffen? Selbst ein Glauben verschrumpelt wie die letzten Weintrauben eines Rebstocks.«
Athalarich verstand; dies war eine Sorge, die Honorius immer wieder geäußert hatte. In den letzten Jahrhunderten des Imperiums war das Erziehungs- und Bildungswesen verfallen. In den Köpfen der verdummten Massen, die durch billige Nahrungsmittel und die barbarischen Spiele in den Arenen ruhig gestellt wurden, waren die Werte, auf denen Rom gegründet war, und der Rationalismus der alten Griechen von Mystizismus und Aberglaube verdrängt worden. Es war, so hatte Honorius seinem Schüler vermittelt, als ob eine ganze Kultur den Verstand verlöre. Die Leute verlernten die Fähigkeit zu denken, und bald würden sie auch vergessen haben, dass sie überhaupt etwas vergessen hatten. Und in Honorius’ Augen verschärfte das Christentum dieses Problem nur noch.
»Der Heilige Augustin hatte uns bereits davor gewarnt, dass der Glaube an die alten Mythen schwindet – schon vor anderthalb Jahrhunderten, als die Lehre der Christen gerade erst Wurzeln schlug. Und mit dem Verlust der Mythen verschwindet auch das Wissen von tausend Jahren, das in diesen Mythen kodifiziert ist, und die starren Dogmen der Kirche werden einen echten Erkenntnisgewinn für die nächsten tausend Jahre verhindern. Das Licht erlischt, Athalarich.«
»Dann übernehmt Ihr das Bischofsamt«, sagte Athalarich eindringlich. »Schützt die Klöster. Gründet ein eigenes, wenn Ihr müsst! Und in der Bibliothek und im scriptorium mögen die Mönche die großen Schriften bewahren und abschreiben, bevor sie verloren sind.«
»Ich kenne diese Klöster«, spie Honorius förmlich aus. »Die großen Werke der Vergangenheit abschreiben zu lassen, als seien sie Zaubersprüche, und noch dazu von Tölpeln, in deren Köpfen Gott herumspukt – pah! Dann würde ich sie eher selbst verbrennen.«
Athalarich unterdrückte ein Seufzen. »Augustinus fand Trost in seinem Glauben, musst du wissen. Er glaubte, das Imperium sei von Gott erschaffen worden, um die Botschaft Christi zu verbreiten – wie konnte Er es also zulassen, dass es zusammenbrach? Augustinus gelangte jedoch zu der Überzeugung, dass die Geschichte einen göttlichen und keinen weltlichen Zweck habe. Und dass der Fall von Rom deshalb auch keine Rolle spiele.«
Honorius betrachtete ihn listig. »Wenn du nun ein Diplomat wärst, würdest du mich darauf hinweisen, dass der arme Augustinus gerade zu der Zeit gestorben sei, als die Vandalen Nordafrika heimsuchten. Und du würdest sagen, dass, wenn er seine Aufmerksamkeit mehr den weltlichen als den geistigen Dingen gewidmet hätte, er vielleicht noch etwas länger gelebt und mehr Zeit für seine Studien gehabt hätte. Das solltest du sagen, wenn du mich dazu überreden willst, das verdammte Bischofsamt anzunehmen.«
»Es freut mich, dass Eure Stimmung sich wieder hebt«, sagte Athalarich trocken.
Honorius berührte seine Hand. »Du bist ein guter Freund, Athalarich. Ein besserer, als ich ihn verdiene. Aber ich werde das Geschenk deines Onkels, das Amt eines Bischofs, trotzdem nicht annehmen. Gott und Politik sind nicht meine Passion; ich will mich weiter den Knochen widmen und ansonsten dem Müßiggang frönen… Wir sind gleich da!«
Sie hatten die Abbruchkante der Klippe erreicht.
Zu Honorius’ Leidwesen war der Pfad, an den er sich erinnerte, überwuchert. Zumal es sich ohnehin um kaum mehr als einen Sims im mürben Gestein der Klippe handelte, der vielleicht von Ziegen oder Schafen ausgetreten worden war. Die Milizionäre beseitigten mit ihren Speeren Unkraut und Gräser. »Es ist schon viele Jahre her, seit ich zuletzt hier war«, sagte Honorius atemlos.
»Mein Herr, damals wart Ihr jünger, viel jünger«, sagte Athalarich ernst. »Ihr müsst gut aufpassen beim Abstieg.«
»Was kümmert mich die Beschwernis? Athalarich, wenn der Pfad zugewachsen ist, ist er nicht mehr benutzt worden, seit ich zum letzten Mal hier war, und wenn die Knochen, die ich gefunden habe, noch unberührt sind – verglichen damit wäre alles andere eine Nichtigkeit. Sieh, der Skythe hat sich schon an den Abstieg begeben, und ich will seine Reaktion sehen… Komm, komm!«
Die Gruppe formierte sich zu einer Linie und ging im Gänsemarsch vorsichtig den gefährlichen Pfad hinab. Honorius bestand darauf, allein zu gehen – der Pfad war ohnehin so schmal, dass zwei Leute kaum nebeneinander zu gehen vermochten –, doch Athalarich ging voran, sodass er den alten Mann wenigstens aufzufangen vermocht hätte, falls er fiel.
Sie erreichten eine Höhle im weichen Kalksandstein und schwärmten aus. Die Milizionäre stocherten mit den Speeren an den Wänden und auf dem Boden herum.
Athalarich betrat vorsichtig die Höhle. Der Boden im Bereich des Eingangs war von Guano fast weiß gefärbt und mit Eierschalen übersät. Die Wände und der Boden waren fast glatt geschliffen, als ob Tiere oder Menschen hier ein- und ausgegangen wären. Athalarich stieg ein starker tierischer Geruch in die Nase, vielleicht von Füchsen, aber er war schal. Offenbar hatte sich außer den Seevögeln seit langer Zeit niemand hier aufgehalten.
Doch genau an dieser Stelle hatte ein jüngerer Honorius die kostbaren Gebeine gefunden.
Honorius streifte in der Höhle umher, inspizierte den Boden und räumte mit den Füßen trockenes Laub und Seetang beiseite. Bald hatte er gefunden, wonach er suchte. Er kniete sich hin und beseitigte mit den Fingern vorsichtig den Schutt. »Es ist noch wie damals, als ich sie gefunden hatte. Ich habe sie auch genauso zurückgelassen, weil ich die Gebeine nicht stören wollte.«
Die anderen scharten sich um ihn. Athalarich bemerkte abwesend, dass ein junger Römer, ein Mann aus Gallas Gefolge, sich auffällig dicht hinter Honorius stellte. Aber der Junge wirkte nicht gefährlich, bloß neugierig.
Und alle waren beeindruckt, als Honorius sachte seinen knöchernen Schatz ans Licht brachte. Athalarich sah auf den ersten Blick, dass es sich um ein menschliches Skelett handelte. Das musste aber ein besonders kräftiger Mensch gewesen sein, sagte er sich, mit schweren Knochen und langen Fingern. Und dass der Schädel deformiert war, das heißt mit einem Loch im Hinterkopf, das vielleicht von einem Schlag herrührte. Der Boden unter den Knochen war mit Muschelschalen und Feuersteinen übersät.
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