Athalarichs Onkel Theoderich war ein entfernter Cousin von Eurich, dem gotischen König von Gallien und Spanien. Theoderich, der sich mit ehrgeizigen Plänen für seine Familie trug, hatte eine Art Zweitresidenz in einer alten, noblen Villa außerhalb von Burdigala bezogen. Als er die Kunde von den exotischen Besuchern vernahm, die Honorius und Athalarich mitgebracht hatten, bestand er darauf, dass sie in seiner Villa Quartier nahmen und plante sofort eine Art Tournee, um die Fremden zu präsentieren und mit den Taten und Reiseabenteuern seines Neffen hausieren zu gehen.
Auf dieser ›Tournee‹ wollte Theoderich Angehörige des neuen gotischen Adels und römische Aristokraten unterhalten.
Wenn das alte Imperium auch die politische Kontrolle verloren hatte, die kulturelle Dominanz des tausend Jahre alten Reichs bestand nach wie vor. Die neuen germanischen Führer waren bereit, von den Römern zu lernen. So hatte der Gotenkönig Eurich die Gesetze seines Königreichs von römischen Rechtsgelehrten formulieren und in Latein veröffentlichen lassen; es war dieses Gesetzeswerk, das Athalarich bei Honorius studieren sollte. Inzwischen hatte die alte Aristokratie des Imperiums sich auch mit den Neuankömmlingen arrangiert. Viele von ihnen, die eine Jahrhunderte lange ›Erwerbsbiographie‹ hatten, blieben so reich und mächtig wie bisher.
Auch nach dem Besuch Roms entbehrte es für Athalarich nicht einer gewissen Ironie, dass diese in Togen gehüllten Sprösslinge alter Familien, von denen viele immer noch kaiserliche Titel trugen, sich unter in Leder gekleideten Barbaren-Adligen unbefangen in Räumen bewegten, deren kunstvolle Fresken und Mosaiken mit rustikaleren Bildern eines Kriegervolks übermalt worden waren: Sie zeigten Reiter mit Helmen, Schilden und Lanzen. Man vermochte einzuwenden – und Honorius machte diese Einwendungen auch geltend –, dass durch die Gier, der sie über Jahrhunderte verhaftet gewesen waren, diese Leute das Reich zerstört hatten, das sie hervorgebracht hatte. Jedoch bedeutete für diese Aristokraten der Austausch des gewaltigen imperialen Überbaus durch das neue System gotischer und burgundischer Häuptlinge keine wesentliche Beeinträchtigung.
Vielmehr schien der Zusammenbruch des römischen Reiches ein paar von ihnen ganz neue geschäftliche Möglichkeiten eröffnet zu haben.
Wenn Theoderich aber geglaubt hatte, den Skythen wie eine Trophäe vorzeigen zu können, hatte er sich getäuscht. Der Mann aus der Wüste schien das stilvolle Atrium, die Gärten und Zimmer der Villa nicht zu goutieren. Er zog es stattdessen vor, die Zeit in dem Raum zu verbringen, den Theoderich ihm angewiesen hatte. Aber er verschmähte das Bett und das übrige Mobiliar des Zimmers; er rollte die Decke aus, die er immer bei sich hatte und spannte sie wie eine Zeltplane auf. Es war, als ob er ein Stück Wüste nach Gallien gebracht hätte.
Wenn der Skythe eine gesellschaftliche Enttäuschung war, so war Papak ein umso größerer Erfolg, wie Athalarich bereits gemutmaßt hatte. Der Perser mit dem exotischen Touch mischte sich ungezwungen unter Theoderichs Gäste, ob Barbaren oder Römer. Er flirtete hemmungslos mit den Frauen und fesselte die Männer mit seinen Geschichten von den besonderen Gefahren, die im Osten lauerten. Alle waren begeistert.
Eine von Papaks beliebtesten Neuerungen war Schach. Das war ein Spiel, sagte er, welches kürzlich zur Erbauung des persischen Hofes erfunden worden war. Niemand in Gallien hatte bisher davon gehört, und Papak bat einen von Theoderichs Tischlern, ein Schachbrett und Spielfiguren für ihn anzufertigen. Das Spiel wurde auf einem Brett mit vierundsechzig Feldern gespielt, über das Figuren in Gestalt von Kriegern und Pferden zogen und sich bekämpften. Die Regeln waren einfach, aber es kam auch in erster Linie auf die Strategie an. Die Goten – die noch immer mit ihren Heldentaten prahlten, obwohl viele von ihnen seit zwanzig Jahren kein Pferd mehr aus der Nähe gesehen hatten –, fanden Gefallen am sublimierten Kampf des Spiels. Die ersten Turniere waren ebenso kurz wie blamabel. Doch unter Papaks taktvoller Anleitung erfassten die besseren Spieler bald die Feinheiten des Spiels, und die Partien wurden länger und interessanter.
Und was Honorius betraf, so ärgerte er sich darüber, dass die Salonspiele eines Persers um so viel spannender empfunden wurden als seine Geschichten von alten Knochen. Allerdings war der alte Mann noch nie ein Salonlöwe gewesen, sagte Athalarich sich voller Mitgefühl, und noch viel weniger ein Intrigant bei Hofe. Honorius blieb lieber bei seinem Backgammon, das er mit seinen alten Aristokratenfreunden spielte -›das Spiel Platos‹, wie er es nannte.
Nach ein paar Tagen rief Theoderich seinen Neffen in einen privaten Raum.
Zu seiner Überraschung fand Athalarich dort Galla vor. Die große, dunkelhaarige Galla mit der klassischen Nase ihrer römischen Vorfahren war die Frau eines prominenten Bürgers der Stadt. Mit vierzig war sie etwa zwanzig Jahre jünger als ihr Mann, und es war allgemein bekannt, dass sie zuhause ›das Sagen hatte‹.
Mit einem bedrückten Ausdruck im bärtigen Gesicht legte Theoderich seinem Neffen die Hand auf den Arm. »Athalarich, wir brauchen deine Hilfe.«
»Ihr habt einen Auftrag für mich?«
»Nicht ganz. Wir haben einen Auftrag für Honorius, und wir möchten, dass du ihn dazu überredest, ihn anzunehmen. Wir wollen versuchen, es dir zu erklären…«
Während Theoderich sprach, spürte Athalarich, wie Galla ihn mit kühlen Augen musterte und dabei die vollen Lippen leicht geöffnet hatte. Es kursierte der Mythos unter den letzten Römern, dass die Barbaren eine junge und vitale Rasse seien. Wenn Galla mit Männern intim wurde, die in ihren Augen kaum besser als Wilde waren, suchte sie vielleicht die animalische Kraft, die sie in der Ehe mit einem verweichlichten römischen Bürger vermisste.
Athalarich, der gerade einmal fünf Jahre älter war als Gallas Zwillinge, wollte sich aber nicht als Spielzeug für eine dekadente Aristokratin hergeben. Er erwiderte ihren Blick kühl und desinteressiert.
Dieses subtile Spiel fand statt, ohne dass Theoderich auch nur das Geringste davon mitbekommen hätte.
»Athalarich«, sagte Galla nun, »wenn ich mich recht erinnere, war Eurichs Königreich vor drei Jahrzehnten noch eine föderale Siedlung innerhalb des Imperiums. Die Dinge haben sich schnell verändert. Aber es gibt strikte Grenzen zwischen unseren Völkern. Sie betreffen Eheschließungen, das Gesetz und sogar die Kirche.«
»Sie hat recht, Athalarich«, sagte Theoderich seufzend. »Es gibt viele Spannungen in unsrer jungen Gesellschaft.«
Athalarich wusste, dass dem so war. Die neuen Barbaren-Herrscher lebten nach ihren traditionellen Gesetzen, die sie als Teil ihrer Identität betrachteten, wogegen ihre Untertanen am römischen Recht festhielten, das sie als universales Regelwerk betrachteten. Auseinandersetzungen über unterschiedliche Bestimmungen in beiden Systemen waren an der Tagesordnung. Ehen zwischen den Völkern waren zwischenzeitlich auch verboten worden. Obwohl alle Ethnien christlich waren, folgten die Goten den Lehren des Arius, was ihnen die Feindschaft ihrer überwiegend katholischen Untertanen eintrug. Und so weiter.
All das behinderte die Assimilierung, die die alten Römer für so viele Jahrhunderte so erfolgreich betrieben hatten – eine Assimilation, die Stabilität und sozialen Frieden garantiert hatte. Wäre dieses Land noch immer unter römischer Herrschaft gewesen, dann hätte Theoderich die besten Aussichten gehabt, ein gleichberechtigter römischer Bürger zu werden. Doch die Söhne von Galla würden von den Goten niemals als gleichberechtigt anerkannt und von der Macht ausgeschlossen werden.
Athalarich hörte höflich zu. »Es ist schwierig, aber wenn Honorius mich etwas gelehrt hat, dann das, dass die Zeit lang ist und dass sich mit der Zeit alles ändert. Vielleicht werden diese Schranken eines Tages fallen.«
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