»Ein solches Relikt habe ich immer schon studieren wollen«, sagte Honorius atemlos. »Es ist wahr, was Titus Lucretius Carus schrieb, dass nämlich die frühen Menschen in jeder Umgebung zu überleben vermochten, obwohl es ihnen an Kleidung und Feuer ermangelte – dass sie wie Tiere in Rotten reisten und auf dem Erdboden oder im Unterholz schliefen – dass sie alles zu essen vermochten und kaum jemals krank wurden? Oh, Ihr müsst nach Rom kommen, mein Herr. Ihr müsst nach Gallien kommen! Denn dort gibt es eine Höhle, eine Höhle an der Meeresküste, wo ich, wo ich…«
Doch der Skythe, der sich vielleicht fragte, wie er auch ans restliche Gold zu kommen vermochte, hörte gar nicht zu. Er hielt das Fragment wie eine Trophäe hoch.
Der Schädel des Homo erectus, in einer Million Jahren blank poliert, glänzte im Sonnenlicht.
Unter Honorius’ Druck erklärte der Skythe sich schließlich bereit, ihm nach Rom zu folgen. Papak kam auch mit, als ein mehr oder minder notwendiger Dolmetscher, aber auch – sehr zu Athalarichs Missfallen – zwei der Träger, die sie durch die Wüste begleitet hatten.
Athalarich stellte Papak auf der Seefahrt zurück nach Italien zur Rede. »Du nimmst den alten Mann schamlos aus. Ich kenne Leute deines Schlags, Perser.«
»Aber wir tun doch das Gleiche«, sagte Papak ungerührt. »Ich nehme sein Geld, du zehrst von seinem Wissen. Wo ist der Unterschied? Die Jungen haben auf die eine oder andere Weise immer schon vom Reichtum der Alten profitiert. Stimmt das etwa nicht?«
»Ich habe mir vorgenommen, ihn sicher wieder nach Hause zu bringen. Und das werde ich auch tun, was auch immer du im Schilde führst.«
Papak lachte. »Ich will Honorius nichts tun.« Er zeigte auf den teilnahmslos wirkenden Skythen. »Ich habe ihm doch gegeben, was er wollte, oder?« Aber die Miene des Skythen, der diese Unterredung mit kaltem Blick verfolgte, sagte Athalarich, dass er sich mitnichten als irgendjemandes Eigentum betrachtete, auch nicht vorübergehend.
Trotzdem war sogar Athalarichs Neugier geweckt, als dieser Wüsten-Nomade in die größte Stadt der Welt gebracht wurde.
An der Stadtgrenze von Rom verbrachten sie die Nacht in einer von Honorius gemieteten Villa.
Das auf einer niedrigen Anhöhe vor den Toren der Stadt errichtete Gebäude war eine typische Villa im Stil der imperialen Periode, deren Architektur von griechischen und etruskischen Einflüssen kündete. Das Haus hatte viele Zimmer und zog sich wie ein Hufeisen um ein Atrium. Im hinteren Bereich befand sich ein Esszimmer, Studierzimmer und Wirtschaftsräume. Zwei auf die Straße hinausgehende Räume waren in Ladengeschäfte umgewandelt worden. Honorius sagte ihm, dass das in den Tagen des Imperiums keine Seltenheit gewesen sei und erinnerte Athalarich an den Laden, den seine Familie früher geführt hatte.
Doch wie die Stadt, die sie überschaute, hatte auch die Villa schon bessere Tage gesehen. Das impluvium, das Becken in der Mitte des Atriums, war hastig ausgeschachtet worden – anscheinend, um an die Rohrleitung aus Blei zu gelangen, die früher Regenwasser kanalisiert hatte.
Honorius tat den heruntergekommenen Zustand mit einem Achselzucken ab. »Das Anwesen hat stark an Wert verloren, als die Eroberer kamen. So weit vor der Stadt ist es schwer zu verteidigen, wisst ihr. Deshalb habe ich das Haus aber auch so günstig zu mieten vermocht.«
An jenem Abend nahmen sie inmitten der verblichenen Pracht eine Mahlzeit ein. Selbst der Mosaikfußboden des Esszimmers war stark beschädigt; es hatte den Anschein, dass Diebe alle Mosaiksteine heraus gebrochen hatten, die mit Blattgold verziert gewesen waren.
Das Essen war kennzeichnend für die pan-eurasische Vermischung, die auf die Expansion der bäuerlichen Gemeinschaften gefolgt war. Die Hauptnahrungsmittel waren Weizen und Reis aus dem ursprünglichen anatolischen Anbaugebiet, die indes durch Quitten aus dem Kaukasus, Hirse aus Zentralasien, Gurken, Sesam und Zitrusfrüchten aus Indien sowie Aprikosen und Pfirsichen aus China angereichert wurden. Diese transkontinentale Speise war ein alltägliches Wunder, das von den Essern aber nicht als solches wahrgenommen wurde.
Am nächsten Tag brachten sie den Skythen in die Stadt.
Sie gingen auf den Palatin, das Kapitol und aufs Forum. Der Skythe schaute sich mit seinen Falkenaugen prüfend um, als ob er irgendwie Maß nähme. Er trug noch immer die Wüstenkluft aus schwarzem Tuch und hatte sich das rote Tuch um den Kopf gewickelt; das musste in Roms feuchter Luft unangenehm gewesen sein, aber er zeigte keinerlei Anzeichen von Unwohlsein.
»Er scheint nicht sonderlich beeindruckt«, murmelte Athalarich an Papak gewandt.
Plötzlich blaffte der Skythe etwas in seiner rauen, alten Sprache, und Papak dolmetschte. »Er sagt, nun wüsste er auch, weshalb die Römer Sklaven, Gold und Lebensmittel aus seiner Heimat brauchten.«
Honorius schien sich darüber zu freuen. »Er mag ein Wilder sein, aber er ist kein Narr. Und er lässt sich auch nicht einschüchtern, nicht einmal vom mächtigen Rom. Gut für ihn.«
Außerhalb der Bereiche mit den Prunkbauten war Rom ein Labyrinth aus Straßen und engen, düsteren Gassen, das Ergebnis einer über tausendjährigen Stadtentwicklung. Viele der hiesigen Mietskasernen hatten fünf oder sechs Etagen. Allerdings drohten die Häuser jederzeit einzustürzen, denn sie waren von skrupellosen Vermietern errichtet worden, die aus jedem Zipfel des wertvollen Lands möglichst viel Profit schlagen wollten. Auf der Wanderung durch abfallübersäte, ungepflasterte Straßen mit Gebäuden, die so dicht beieinander standen, dass sie sich an den Giebeln fast berührten, hatte Athalarich das Gefühl, durch eine große labyrinthartige Kanalisation zu gehen – wie eine der berühmt-berüchtigten cloacae, die unter Rom zum Tiber verliefen.
Die Menschen auf den Straßen trugen Gesichtsmasken aus Gaze, die mit Öl getränkt oder mit Gewürzen behandelt waren. Kürzlich waren nämlich wieder die Windpocken ausgebrochen. Krankheiten waren überhaupt eine ständige Bedrohung:
Die Menschen sprachen noch immer über die verheerende Seuche des Antoninus vor dreihundert Jahren. In den Jahrtausenden seit dem Tod von Juna hatte der medizinische Fortschritt die großen Seuchen kaum einzudämmen vermocht. Die großen Handelsrouten hatten die Bewohner Europas, Nordafrikas und Asiens zu einem einzigen riesigen Nährboden für Mikroben vereinigt, und dass die Menschen sich zunehmend in Städten mit unzulänglicher oder gar keiner Kanalisation drängten, hatte die Probleme noch verschärft. In Roms Kaiserzeit war es erforderlich gewesen, einen stetigen Zustrom gesunder Bauern in die Städte zu gewährleisten, um die Sterbefälle auszugleichen – und wirklich gelang es Stadtbevölkerungen erst im zwanzigsten Jahrhundert, ihre Anzahl aus eigener Kraft konstant zu halten.
Diese schier aus allen Nähten platzende Stadt war eine Verirrung der landwirtschaftlichen Revolution, ein Ort, an dem die Menschen wie Ameisen zusammenlebten und nicht etwa wie Primaten.
Es war fast eine Erleichterung, als sie zu einer Stelle kamen, die bei einer der Eroberungen durch die Barbaren niedergebrannt worden war. Obwohl die Zerstörung schon vor Jahrzehnten stattgefunden hatte, war dieser versengte und verwüstete Bereich nie mehr wiederaufgebaut worden. Doch wenigstens wurde Athalarich der Blick in den Himmel hier nicht durch schmutzige Fassaden verstellt.
»Fragt ihn, woran er gerade denkt«, sagte Honorius zum Perser.
Der Skythe drehte sich um und ließ den Blick über die wuchtigen Mietskasernen streifen. Er murmelte etwas, und Papak dolmetschte: »Seltsam, dass ihr Leute es vorzieht, wie Möwen in Klippen zu leben.« Athalarich hatte die Verachtung in der Stimme des Skythen gehört.
Als sie zur Villa zurückkehrten, stellte Athalarich fest, dass die Börse, die er am Körper trug, säuberlich aufgeschlitzt und geleert worden war. Er ärgerte sich, über sich selbst wie über den Dieb – wie sollte er auf Honorius aufpassen, wenn er nicht einmal auf seine eigene Börse zu achten vermochte –, aber er wusste auch, dass er dankbar sein sollte, dass der unsichtbare Räuber ihm nicht auch gleich den Bauch aufgeschlitzt hatte.
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