Am nächsten Tag kündigte Honorius an, mit seinen Gästen eine Landpartie zu einem Ort zu machen, den er das Museum des Augustus nannte. Also stiegen sie in Wagen und rumpelten über gepflasterte, aber überwucherte Straßen an den Bauernhöfen vorbei, die sich um die Stadt zogen.
Sie erreichten etwas, das einmal eine exklusive, teure Kleinstadt gewesen sein musste. Eine Lehmziegelmauer umschloss ein paar Villen und eine Ansammlung bescheidener Gebäude, die Sklaven beherbergt hatten. Der Ort war offensichtlich verlassen. Die Mauer war niedergerissen und die Gebäude geplündert worden und ausgebrannt.
Honorius führte sie mit einer krakeligen Landkarte in der Hand in den Gebäudekomplex, wobei er etwas vor sich hinmurmelte und die Karte in diese und jene Richtung drehte.
Eine dicke Pflanzenschicht war durch die Mosaiken und Fliesen gebrochen, und Efeu klammerte sich an vom Feuer gesprungene Mauern. Hier musste ein richtiger Todeskampf stattgefunden haben, sagte Athalarich sich, als das tausendjährige Imperium schließlich die Kraft verließ und sein Schutz verloren war. Aber die Anwesenheit der neuen Vegetation inmitten des Verfalls hatte irgendwie etwas Beruhigendes. Es war sogar eine tröstliche Vorstellung, dass in ein paar Jahrhunderten dieser Ort von der Natur zurückerobert sein würde und nichts mehr vom ihm übrig außer ein paar Erhebungen in der Landschaft und seltsam geformte Steine, an denen ein unvorsichtiger Bauer sich den Pflug beschädigen konnte.
Honorius brachte sie zu einem kleinen Gebäude in der Mitte des Komplexes. Es hatte sich vielleicht einst um einen Tempel gehandelt, war aber auch ausgebrannt und zerstört wie der Rest. Die Träger mussten erst einmal ein Gewirr aus Ranken und Efeu wegreißen. Honorius suchte den Boden ab. Schließlich hob er mit einem triumphierenden Ruf einen Knochen auf, eine Capula von der Größe eines Esstellers. »Wusste ich es doch! Die Barbaren haben das eitle Gold und das glänzende Silber mitgenommen, aber von den wahren Schätzen hier wussten sie nichts…«
Beim Anblick von Honorius’ spektakulärem Fund wühlten auch die anderen mit der Begeisterung von Goldsuchern im Erdboden und in der Vegetation. Selbst die tölpelhaften Träger schienen von intellektueller Neugierde ergriffen, vielleicht zum ersten Mal im Leben. Bald förderten sie alle große Knochen, Stoßzähne und sogar missgestaltete Schädel zutage. Es war ein höchst aufregender Moment.
»Dies war einmal ein Knochen-Museum, das von Kaiser Augustus daselbst errichtet wurde!«, sagte Honorius. »Der Biograph Sueton sagt uns, dass es ursprünglich auf der Insel Capri eingerichtet wurde. In späteren Zeiten überführten Augustus’ Nachfolger die besten Stücke hierher. Ein paar Knochen sind schon zersplittert – wie dieser hier –, denn sie sind offenbar schon sehr alt, und es wurde Schindluder mit ihnen getrieben…«
Nun fand Honorius einen schweren Brocken aus rotem Sandstein, in den seltsame weiße Gegenstände eingebettet waren. Er hatte die Größe eines Sargdeckels und war viel zu schwer für ihn, sodass die Träger ihm helfen mussten, ihn anzuheben. »Nun, mein Herr Skythe. Zweifellos werdet Ihr diesen stattlichen Burschen erkennen.«
Der Skythe lächelte. Athalarich und die anderen kamen herbei, um einen Blick darauf zu werfen.
Die in den roten Stein eingebetteten weißen Gegenstände waren Knochen: das Skelett einer im Stein eingeschlossenen Kreatur. Die Kreatur musste so lang gewesen sein wie Athalarich hoch. Sie hatte kräftige Hinterbeine, deutlich sichtbare, mit dem Rückgrat verbundene Rippen und kurze, vor der Brust verschränkte Vorderarme. Und sie hatte einen langen Schwanz wie ein Krokodil, sagte Athalarich sich. Das erstaunlichste Merkmal war aber der Kopf. Der massive Schädel hatte einen großen hohlen Knochengrat und einen kräftigen Kiefer, der unter etwas aufgehängt war, das wie ein Vogelschnabel anmutete. Zwei Augenhöhlen starrten sie aus der Zeit an.
Honorius beobachtete ihn mit rheumatisch wässrigen Augen. »Na, Athalarich?«
»Ich habe so ein Ding nie zuvor gesehen«, stieß dieser hervor. »Aber…«
»Aber du weißt, was das ist.«
Es musste ein Greif gewesen sein: die sagenhaften Ungeheuer der östlichen Wüsten mit vier Füßen und einem großen Vogelkopf. Die Motive der Greife hatten Malerei und Bildhauerei seit tausend Jahren durchdrungen.
Nun setzte der Skythe zu einem so schnellen Redefluss an, dass Papak kaum noch mit dem Dolmetschen nachkam. »Er sagt, dass sein Vater, und sein Vater vor ihm, in den Wüsten des Ostens nach dem Gold gesucht hätten, das von den Bergen hinuntergespült wird. Und die Greife bewachen das Gold. Er hat ihre Knochen überall gesehen; sie lugen aus dem Gestein wie hier…«
»Genauso, wie Herodot es beschrieben hat«, sagte Honorius.
»Frag ihn, ob er auch einen lebend gesehen hat«, sagte Athalarich.
»Nein«, sagte der Skythe durch Papak, »aber er hat ihre Eier in großer Zahl gesehen. Wie Vögel legten sie ihre Eier in Nestern ab, allerdings auf dem Erdboden.«
»Wie ist die Bestie überhaupt in den Stein gelangt?«, murmelte Athalarich.
»Erinnere dich an Prometheus«, sagte Honorius lächelnd.
»Prometheus?«
»Um ihn dafür zu bestrafen, weil er den Menschen das Feuer gebracht hatte, ketteten die alten Götter Prometheus an einen Berg in der östlichen Wüste an, der von Greifen bewacht wurde. Aischylos erzählt uns, wie sein Leib von Erdrutschen und Regenfällen begraben wurde und dass er für eine lange Zeit im Gestein eingeschlossen war, ehe er durch die Verwitterung des Felsens wieder ans Licht kam… Dies hier ist auch so eine prometheische Bestie, Athalarich!«
Sie setzten die Unterhaltung fort, während sie in den Knochen wühlten. Sie waren allesamt fremdartig, riesig, verkrümmt und unidentifizierbar. Die meisten dieser Überreste stammten von Rhinozerossen, Giraffen, Elefanten, Löwen und Chalicotheria, den mächtigen Säugetieren des Pleistozän. Sie waren durch die tektonischen Umwälzungen ans Tageslicht gelangt worden, als Afrika sich langsam nach Eurasien hineinschob. Wie in Australien und wie auf der ganzen Welt, so war es auch hier: Die Menschen hatten vergessen, was sie verloren hatten, und es blieben ihnen nur noch verzerrte, streiflichtartige Erinnerungen an diese Riesen.
Und während die Männer diskutierten und sich am Fossil zu schaffen machten, schaute der Schädel des Protoceratops – ein Dinosaurier, der nur ein paar Jahrhunderte vor Purgas Geburt in einem Sandsturm umgekommen war – sie mit der blicklosen Ruhe der Ewigkeit an.
»Dies sind Berichte, die von Hesiod, Homer und vielen anderen niedergeschrieben wurden, aber von Generationen von Geschichtenerzählern vor ihnen überliefert wurden.
Die längste Zeit vor dem Erscheinen moderner Menschen war die Erde leer. Doch der urzeitliche Grund gebar eine Anzahl von Titanen. Die Titanen waren wie Menschen, nur viel größer. Prometheus war einer von ihnen. Kronos führte seine Titanen-Geschwister an, um ihren Vater zu meucheln. Doch aus seinem Blut ging die nächste Generation hervor, die Riesen. In jenen Tagen, nicht lang nach dem Ursprung des Lebens selbst, tobte ein verwandtschaftliches Chaos, und Generationen von Riesen und Ungeheuern breiteten sich aus…«
Sie saßen im verwüsteten Atrium der gemieteten Villa. Es war noch immer warm und schwül, obwohl es schon Abend war, doch die Weinranken, das Summen der Insekten und das üppig wuchernde Grün ums Atrium verliehen dem Ort ein fast lauschiges Ambiente.
Und an diesem Ort des Verfalls versuchte Honorius über vielen Gläsern Wein den Mann aus der Wüste zu überzeugen, dass er noch viel weiter mit ihm reisen müsse: durch die Trümmer des Imperiums gen Westen bis zu den Gestaden des Weltenmeeres selbst. Also erzählte er ihm Geschichten von der Geburt und dem Tod der Götter.
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