Honorius erläuterte die Besonderheiten der Fundstelle. »Schaut hier. Er hat Muscheln gegessen. Die Schalen sind versengt; wahrscheinlich hat er sie ins Feuer geworfen, um sie zu öffnen. Und ich glaube, diese Feuersteinsplitter sind Abfälle von einem Werkzeug, das er sich angefertigt hatte. Er war eindeutig menschlich, aber nicht so wie wir. Seht diesen Schädel, mein Herr Skythe! Diese kräftigen Brauen, die simsartigen Wangenknochen – habt Ihr so etwas jemals gesehen?« Er warf Athalarich mit leuchtenden Augen einen Blick zu. »Es ist, als ob wir in eine andere Zeit zurückversetzt worden wären, als ob es uns Jahrtausende in die Vergangenheit verschlagen hätte.«
Der Skythe bückte sich, um den Schädel in Augenschein zu nehmen.
Und dann geschah es.
Der junge Römer hinter Honorius machte einen Schritt nach vorn. Athalarich sah seinen vorstoßenden Arm, hörte ein leises Knirschen. Blut spritzte. Honorius brach über den Knochen zusammen.
Die Leute wichen entsetzt zurück. Papak quiekte wie ein ängstliches Schwein. Doch der Skythe fing Honorius auf und legte ihn auf den Boden.
Athalarich sah, dass Honorius’ Hinterkopf zertrümmert war. Er stürzte sich auf den jungen Mann, der hinter Honorius gestanden hatte und packte ihn an der Tunika. »Du warst es – ich habe es gesehen – da warst es. Warum? Er war doch ein Römer wie du, einer von euren eigenen…«
»Es war ein Unfall«, sagte der junge Mann ungerührt.
»Lügner!« Athalarich schlug ihm so heftig ins Gesicht, dass er aus Mund und Nase blutete. »Wer hat dich gedungen? Galla?« Athalarich holte zu einem weiteren Schlag gegen den Mann aus, doch starke Arme schlangen sich um seine Taille und zogen ihn weg. Athalarich zappelte in ihrem Griff und wandte sich an die anderen. »Helft mir. Ihr habt gesehen, was geschehen ist. Der Mann ist ein Mörder!«
Aber sie schauten ihn nur ausdruckslos an.
Und dann verstand Athalarich.
Das war alles geplant gewesen. Nur der entsetzte Papak und vermutlich auch der Skythe hatten nichts von diesem Mordplan gewusst – und Athalarich selbst, der Barbar, der mit den Gepflogenheiten einer mächtigen Zivilisation noch viel zu wenig vertraut war, als dass er sich ein solches Komplott überhaupt vorzustellen vermocht hätte. Durch die Ablehnung, das Bischofsamt zu übernehmen, war Honorius ein Störfaktor für Goten und Römer gleichermaßen geworden. Die Urheber dieser ebenso sinnlosen wie üblen Verschwörung hatten sich keinen Deut um Honorius’ Knochen geschert; den Ausflug ans Meer hatten sie nur als günstige Gelegenheit betrachtet. Vielleicht würden sie die Leiche des armen Honorius sogar ins Meer werfen und nicht einmal nach Burdigala überführen, um eine unangenehme Untersuchung zu vermeiden.
Dann riss Athalarich sich los und eilte zu Honorius. Der alte Mann, dessen zerschmetterter Kopf in den Armen des Skythen ruhte, atmete noch, hatte die Augen jedoch geschlossen.
»Lehrer. Hört Ihr mich?«
Zu seinem Erstaunen schlug Honorius noch einmal die Augen auf. »Athalarich?« Die Augen drehten sich langsam in den Höhlen. »Ich hörte ein lautes Knirschen, als wäre mein Kopf ein Apfel, in den jemand kraftvoll hineingebissen hätte…«
»Nicht sprechen.«
»Hast du die Knochen gesehen?«
»Ja, ich habe sie gesehen.«
»Es war auch ein Mensch der Dämmerung, nicht wahr?«
»Mensch der Dämmerung«, sagte da der Skythe in stark akzentuiertem, aber verständlichem Latein. Athalarich war geschockt.
»Ah«, seufzte Honorius. Dann packte er Athalarichs Hand so fest, dass es schmerzte.
Athalarich war sich des stummen Kreises um sich herum bewusst, der Männer aus dem Osten, der Goten und der Römer, die alle außer dem Skythen und dem Römer Komplizen in diesem Mord waren. Der Händedruck erschlaffte. Ein letzter Schauder, und Honorius war tot.
Der Skythe legte Honorius’ Leiche vorsichtig auf die Knochen, die er entdeckt hatte – Neandertaler-Gebeine, die Knochen eines Geschöpfs, das sich selbst als den Alten Mann betrachtet hatte –, und die Blutlache tränkte langsam den steinigen Boden.
Der Wind drehte. Eine salzige Brise von der See wehte in die Höhle.
KAPITEL 16
Ein tropisches Flussufer
Darwin, Nördliches Territorium, Australien, 2031 n. Chr.
In Rabaul entfalteten die Ereignisse sich nach einer unerbittlichen Logik, als ob der große Vulkan und die in ihm verborgene Tasche aus Magma eine riesige geologische Maschine seien.
Der erste Spalt tat sich im Boden auf. Eine große Wolke aus Asche stieg in den rauchigen Himmel empor, und rot glühende Gesteinsschmelze schoss wie eine Fontäne heraus. Obwohl das aufsteigende Magma sich noch immer etwa fünf Kilometer unter der Erdoberfläche konzentrierte, hatte Rabauls dünne Kruste dem Druck nicht mehr standgehalten.
Darwin wurde von heftigen Beben erschüttert.
Es war das Ende des ersten Konferenztags. Die Teilnehmer kehrten von den verschiedenen Lokalitäten, in denen sie zu Abend gegessen hatten, zurück und strömten in die Hotelbar. Joan saß auf einem Sofa, hatte die Füße auf den Tisch gelegt und beobachtete die Leute, die sich mit Drinks, Joints und Pillen in kleinen Gruppen versammelten und aufgeregt durcheinander redeten.
Die Delegierten waren typische Akademiker, sagte Joan sich amüsiert. Eine Kleiderordnung kannten sie nicht, sondern sie waren ganz nach Gusto gekleidet. Man trug die signalorangefarbenen Sakkos und grünen Hosen, die von Europäern wie Holländern und Deutschen bevorzugt zu werden schienen, Sandalen, T-Shirts und Shorts der kleinen kalifornischen Abordnung und sogar ein paar ostentativ getragene Volkstrachten. Akademiker kokettierten immer damit, dass sie einfach anzogen, was sie gerade aus dem Kleiderschrank zogen, doch mit ihrer ›unbewussten‹ Wahl gaben sie mehr über ihre Persönlichkeit preis als Leute, die jeder Mode hinterher hechelten – wie zum Beispiel die Alison Scotts dieser Welt.
Die Bar selbst war ein typisches Beispiel für die moderne Konsum-/Unternehmenskultur, sagte Joan sich. An jeder ›intelligenten‹ Wand prangten Logos, Werbesprüche, Nachrichten und Ausschnitte von Sportereignissen, und alle versuchten sich gegenseitig zu übertönen. Selbst die Untersetzer auf dem Tisch vor ihr spulten eine animierte Bier-Werbung nach der anderen ab. Es war wie in einem Pandämonium. Jedoch war sie in einer solchen Umgebung aufgewachsen, wenn man die friedliche Stille bei den Ausgrabungen ihrer Mutter außer Acht ließ. Nach diesem unheimlichen Zwischenspiel auf dem Flugfeld – dem Heulen der Triebwerke, den entfernten Schüssen und der düsteren mechanischen Realität – fühlte sie sich wie in Trance. Dieses permanente dumpfe Brüllen war auf seine Art zwar tröstlich, aber es hatte auch die tödliche Eigenart, einen einzulullen.
Doch nun erfüllten die Bilder der sich verstärkenden Eruption von Rabaul die smarten Wände und blendeten die Sport- und Nachrichtenkanäle aus – sogar eine Live-Schaltung von Ian Maughans Marssonde.
Alyce Sigurdardottir reichte Joan eine Soda. »Dieser junge Aussie-Barman ist ein lecker Kerlchen«, sagte sie. »Göttliche Haare und Zähne. Wäre ich vierzig Jahre jünger, würde ich mich an ihn ranmachen.«
Joan nahm einen Schluck Soda und fragte Alyce: »Meinen Sie, dass die Leute Angst haben?«
»Wovor – vorm Vulkanausbruch oder vor den Terroristen? Im Moment halten Aufregung und Angst sich die Waage. Das könnte sich aber bald schon ändern.«
»Ja. Alyce, hören Sie zu.« Joan beugte sich zu ihr hinüber. »Die Ausgangssperre, die die Polizei wegen Rabaul über uns verhängt hat…« Die offizielle Version lautete, dass die Asche von Rabaul durch die Vermischung mit der Asche der weiter entfernten Waldbrände eine schwach giftige Substanz ergab. »Das ist aber nicht die ganze Wahrheit.«
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