Alyce nickte, und ihr runzliges Gesicht verhärtete sich. »Lassen Sie mich raten. Die Viert-Weltler.«
»Sie haben Windpocken-Bomben rund ums Hotel deponiert. Behaupten sie jedenfalls.«
Alyces Gesicht zeigte dezidierten Abscheu. »Mein Gott. Wie damals im Jahr 2001.« Sie spürte Joans Zögerlichkeit. »Hören Sie zu. Wir dürfen wegen dieser Arschlöcher nicht aufgeben. Wir müssen mit der Konferenz weitermachen.«
Joan ließ den Blick durch den Raum schweifen. »Wir sind schon unter Druck. Es hat für die meisten Teilnehmer eine Mutprobe bedeutet, überhaupt hierher zu kommen. Und nun werden wir auch noch auf dem Flughafen angegriffen. Wenn die Teilnehmer Wind von diesem Windpocken-Gerücht bekommen… Vielleicht droht die Stimmung zu kippen, wenn heute Abend die Bull Session losgeht.«
Alyce legte die Hand auf Joans. »Einfacher wird es bestimmt nicht. Und bedenken Sie, dass Ihre ›Bull Session‹ das eigentliche Thema der Veranstaltung ist.« Sie streckte den Arm aus und nahm Joan das Sodaglas ab. »Geben Sie sich einen Ruck.«
Joan lachte. »Ach, Alyce…«
»Hoch mit Ihnen!«
Joan kam sich vor wie ein ängstlicher Assistent von Alyce, den sie zur Beobachtung von Menschenaffen in den gefährlichen Busch scheuchte. Doch sie fügte sich. Sie streifte die Schuhe ab und stieg mit Alyces Hilfe auf einen Kaffeetisch.
Sie wurde von Gefühlen der Peinlichkeit und Absurdität überwältigt. Wie kam sie überhaupt auf die Idee, sich auf die Hinterbeine zu stellen und einem akademischen Publikum einen Vortrag über die Rettung der Welt halten zu wollen, wo die Konferenz buchstäblich angegriffen wurde? Doch wer A sagt, muss auch B sagen, und die Leute schauten schon zu ihr herüber. Also klatschte sie in die Hände, bis sie die Aufmerksamkeit des größten Teils der Anwesenden auf sich gezogen hatte.
»Liebe Freunde, ich bitte um Entschuldigung«, hob Joan zögerlich an. »Aber ich bitte um Ihre Aufmerksamkeit. Wir haben den ganzen Tag hart gearbeitet, aber ich kann Sie leider noch nicht in den Feierabend entlassen.
Wir sind hier, um den Einfluss der Menschheit auf die Welt vor dem Hintergrund unsrer evolutionären Entstehung zu diskutieren. Wir haben uns hier zu einer einzigartigen Gruppe zusammengefunden – sie ist interdisziplinär, international und einflussreich. Wahrscheinlich weiß kein Mensch besser als wir, weshalb und wie wir in dieses Schlamassel geraten sind. Das bietet uns die Gelegenheit – eine vielleicht einmalige und nicht wiederholbare Chance –, mehr zu tun, als nur darüber zu reden.
Dass ich Sie zusammengerufen habe, hatte einen weiteren Grund, den ich Ihnen bisher noch nicht genannt habe. Ich möchte diesen Abend als Sondersitzung nutzen, als außerordentliche Sitzung. Und wenn sie so verläuft, wie ich es mir erhoffe, dann wird diese Sitzung vielleicht der Anfang eines völlig neuen Diskurses sein und eine neue Hoffnung gebären.« Sie schämte sich fast wegen dieser unwissenschaftlichen Diktion, und wirklich schürzten viele Leute die Lippen und runzelten die Stirn. »Also füllen Sie Ihre Gläser, Ampullen und Reagenzgläser, nehmen Sie irgendwo Platz und hören mir zu.«
Und so hielt sie in dieser namenlosen Bar, während die Konferenzteilnehmer sich auf Stühlen, Barhockern und Tischen niederließen, einen Vortrag über Artensterben.
Joan lächelte. »Selbst Paläontologen wie ich verstehen etwas von Kooperation und Komplexität. Papa Darwin selbst bringt gegen Ende des Ursprungs der Arten eine Metapher, die es auf den Punkt bringt.« Verlegen las sie es von einem Zettel ab: »›Man stelle sich ein tropisches Flussufer vor, das mit vielen Pflanzen vieler Arten bewachsen ist, wo Vögel im Gebüsch singen, wo Insekten umherschwirren und wo Würmer durch die feuchte Erde kriechen. Und dann bedenke man, dass diese präzise konstruierten Lebensformen, die sich so sehr voneinander unterscheiden und die doch in mannigfaltiger Hinsicht voneinander abhängig sind, alle von den Gesetzen hervorgebracht wurden, die um uns herum walten‹…«
Sie legte den Zettel hin. »Und nun ist dieses tropische Flussufer bedroht. Einzelheiten muss ich Ihnen nicht erst schildern.
Wir stecken zweifelsfrei inmitten eines Massensterbens. Die Details sind erschütternd. In meiner Lebenszeit sind die letzten wilden Elefanten von den Savannen und aus den Wäldern verschwunden. Es gibt keine Elefanten mehr! Wie sollen wir das jemals gegenüber unsren Enkelkindern rechtfertigen? In meiner Lebenszeit haben wir bereits ein Viertel aller Spezies verloren, die im Jahr 2000 existiert hatten. Wenn wir in diesem Tempo weitermachen, werden wir bis zum Ende des Jahrhunderts zwei Drittel aller Spezies vernichten, die 1900 existiert hatten. Der Vorgang ist so schwerwiegend, dass er schon in die Kategorie der fünf größten Katastrophen der an Katastrophen gewiss nicht armen Erdgeschichte fällt.
Derweil hat die von Menschen verursachte Klimaänderung sich als noch viel schwerwiegender erwiesen, als die meisten Wissenschaftler vorhergesagt hatten. Die großen afrikanischen Küstenstädte, von Alexandria bis Lagos, sind ganz oder teilweise überflutet, sodass Dutzende Millionen Menschen obdachlos geworden sind. Bangladesh steht fast vollständig unter Wasser. Und wenn man nicht für ein paar Milliarden Dollar einen Küstenschutz errichtet hätte, dann wäre Florida auch schon ein Archipel. Und so weiter.
Das ist alles unsre Schuld. Wir haben uns der Natur einfach übergestülpt. Etwa einer von zwanzig Menschen, die jemals existiert haben, lebt heute – bei anderen Spezies beträgt dieses Verhältnis eins zu tausend. Wir zerstören die Erde zwangsläufig.
Doch selbst jetzt stellt man sich noch die Frage: Kommt es wirklich darauf an? Dann verlieren wir halt ein paar putzige Säugetiere und eine Menge Käfer, von denen eh noch kein Schwein gehört hat. Aber was soll’s? Hauptsache, uns gibt es noch.
Ja, uns gibt es noch, aber das Ökosystem gleicht einer riesigen Lebenserhaltungsmaschine. Es beruht nämlich auf den Interaktionen von Spezies auf allen Stufen des Lebens, von den primitivsten Pilzfäden, die Wurzeln von Pflanzen ernähren, bis hin zu den gewaltigen globalen Zyklen von Wasser, Sauerstoff und Kohlendioxid. Darwins Bild vom tropischen Ufer passt wirklich. Wie bleibt die Maschine aber stabil? Wir wissen es nicht. Was sind die wichtigsten Bauteile? Wir wissen es nicht. Wie viele vermögen wir herauszunehmen, ohne dass die Maschine versagt? Das wissen wir genau so wenig. Selbst wenn wir in der Lage wären, die Spezies zu identifizieren und zu retten, die wir für unser Überleben brauchen, wüssten wir nicht, von welchen Spezies die wiederum abhängen. Wenn wir aber so weitermachen wie bisher, dann werden wir die Grenzen unsrer Belastung bald herausfinden.
Vielleicht sehe ich das zu schwarz. Aber ich glaube schon, dass es einen großen Unterschied machen wird, ob wir durch unsere eigene Dummheit aussterben. Weil wir der Welt nämlich etwas geben, das sie in ihrer ganzen langen Geschichte noch von keinem anderen Lebewesen bekommen hat. Und das ist Intelligenz und zielgerichtetes Handeln. Wir sind in der Lage, einen Ausweg zu finden.
Also lautet meine Frage – im Vollbesitz der geistigen Kräfte –, was wir nun zu tun haben?«
Sie verstummte unsicher und blieb auf dem Kaffeetisch stehen.
Ein paar Leute nickten. Andere schauten gelangweilt.
Alison Scott war die erste, die sich erhob. Sie klappte die langen Beine grazil aus. Joan hielt den Atem an.
»Sie erzählen uns nichts Neues, Joan. Der langsame Tod der Biosphäre ist… äh… eine Banalität. Ein Klischee. Und ich muss auch darauf hinweisen, dass das, was wir getan haben, unvermeidbar war. Wir waren Tiere, wir sind Tiere und werden uns auch weiterhin wie Tiere verhalten.« Das wurde mit einem missmutigen Raunen quittiert. »Man weiß von anderen Tieren, dass sie sich selbst ausgerottet haben«, sattelte Scott noch einen drauf. »Im zwanzigsten Jahrhundert wurden Rentiere auf einer kleinen Insel im Beringmeer ausgesetzt. Eine ursprüngliche Population von neunundzwanzig schwoll in zwanzig Jahren auf sechstausend an. Ihre Nahrung bestand jedoch aus langsam wachsenden Flechten, die schneller abgegrast wurden, als sie nachzuwachsen vermochten.«
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